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Der Abend des Denkens

von am 06.03.2009 11:54, Rubrik heft

Abend ist ein Moment der Dunkelheit. Er ist die Vermittlung zwischen Tag und Nacht und damit ein synthetischer Begriff, der sich der Eindeutigkeit entziehen kann. Dieses Essay versucht aus dieser synthetischen Struktur auf die Qualität der Geschehnisse zu schließen, die sich im Zeitraum, in dem er wehrt, ereignen könnten.


Der Abend1 wird von Trakl durch den Mond erhellt, doch nicht um ein Licht in der Finsternis zu sein, das für Verirrte leuchtet. Es ist ein ‚Sichelmond erfüllt von toten Heldengestalten’, der mit der ‚sanften Umarmung Liebender die Schatten berühmter Zeiten beschwört’, die vermögen die ‚modrigen Felsen „rings“ zu verdecken’.

Sich abends zu treffen, zu trinken und zu singen gehört zu den Spielarten der Vorstellungen von seelischer Gemütlichkeit, die im Geist der Menschen eine wichtige Rolle spielen. Die ritualisierte gegenseitige Annäherung zwischen den Menschen schafft damit, über den Austausch von Tageserlebnissen, eine Abfuhr für die aufgestauten Gedanken und Empfindungen, die sich in der richtigen Stimmung als Gespräch unter Gleichgesinnten am besten entfalten kann. Das Denken im Kreis der Gleichgesinnten gestaltet sich teils nach tradierten Mustern, die spielerisch mit den Anforderungen unterschiedlicher Rangordnungen umgehen, teils völlig überraschend und dann durchaus heftig wo sich aufgestaute Gefühle entladen. Die Funktion ist immer die der Stärkung des Zusammenhalts einer Gruppe, sowie die der Triebabfuhr, die mit den Gefühlen des Einzelnen, aber vor allem der nicht Anwesenden nicht immer rücksichtsvoll umgeht. Das gemeinsame Erleben und Durchleben des Besprochenen schweißt die Teilnehmer an einem solchen Ereignis zusammen und erzeugt so überhaupt erst das provinzielle Bedürfnis der Gemeinschaft. Wahrheit spielt in der am Stammtisch orientierten Welt also nur eine Rolle, wo sie nicht über die am Tisch vertretenen Interessen hinausweist und diese beschränken sich meist auf eine Interessensprovinz. Diese Interessensprovinz reflektiert die aufgeworfenen Fragestellungen ausschließlich nach Kriterien des parochialen Verständnisses, also nur in den Grenzen der sinnbildlichen Parochie (dem Amtsbezirk eines Pfarrers). Fakten werden mit Meinungen und Einschätzungen vermischt und die eigene Weltsicht kehrt sich oft recht unverblümt in Form von Vorurteilen nach außen. Meinung überbrückt die Abgründe des Denkens zwischen Welt und Ansicht. Die Grenze zwischen akzeptablen und pathologischen Meinungen wird vor Ort oder durch eine geltende Anerkannte Autorität gezogen. Mit welchem Recht diese Autorität für sich die Wahrheit beansprucht ist dabei Nebensache und oft nur Frage der gekonnten Darstellung.

Die Ontologie des Stammtischs weist also auf eine aporetische Denkstruktur, die sich gleichsam im Logos wie im Mythos entfalten kann und nur durch diese binäre Konstruktion überhaupt Sinn macht. Die Beschwörung berühmter Zeiten und das Schwelgen darin ist Teil dieser Funktion. Die Erinnerung, die wie die Umarmung Liebender empfunden wird, verklärt historische Ereignisse, aber auch die eigene Geschichte oftmals und macht es dem Mythos leicht in den Gesprächen Platz zu finden. Die Schatten berühmter Zeiten verdecken dann die modrigen Felsen, die einen meist in Wirklichkeit umgeben.

In einem Wort, das dem Begriff Stammtisch gerne nachgereicht wird und das hier mit ihm im Mittelpunkt der Betrachtung stehen soll, liegt die Formel für diese besondere Struktur verborgen. Das Wort Provinz ist wie das Wort Abend ein Vermittler zwischen zwei Polen. Denn der Mond scheint in Trakls „Der Abend“ nicht nur auf die ‚schweigenden Wälder’ am Land, sondern er strahlt auch bläulich „gegen die Stadt hin / wo kalt und böse / Ein verwesendes Geschlecht wohnt,“. Stadt und Land, als ewiges Gegensatzpaar, geben hier die Folie für ein Schauspiel zwischen Idylle und Tod ab. Der Mond spiegelt sich „Aufseufzend im leeren Kristall / Des Bergsees“. Die Stadt, im Traklschen Gedicht, ist, im Sinne des expressionistischen Symbolismus des Herbstes, der sein Werk dominiert, nicht die Großstadt, deren Existenz das Wort Provinz evoziert, sondern ein Ort der ‚dunklen Zukunft’.

In diesem Spiel mit den Symbolen des Verfalls und der Ignoranz entblößt sich die aporetische Struktur, die sich im hergebrachten Unterschied zwischen Stadt und Land (der sich im Wort Provinz als Hervorhebung des imaginierten dumpfen Ländlichen offenbart) bemerkbar macht. Das Dunkle (oder besser die Traklsche „dunkle Zukunft“), das die Begriffe Stammtisch und Provinz in sich zu tragen scheinen, hat aber weniger mit einer geographischen Situation (wie die Trennung Stadt/Land suggeriert), zu tun, sondern mit einer besonderen Charakteristik des Denkens und Sprechens in der Gesellschaft. Das Wort Provinz wird somit zur Chiffre für einen bestimmten Zustand des Denkens in einer bestimmten Gesellschaft. Die Interessensprovinz bezeichnet den Ort an dem sich das Denken den unmittelbaren Regungen menschlicher Gemeinschaft unterwirft. Rudeldenken etabliert Denkzwänge die zur Scheinnatürlichkeit werden. Indem sie naturhaften Charakter vorgaukeln legitimieren sie sich über scheinbar unausweichliche Fakten. Denken hört auf kritisch zu sein und erstarrt somit zu einer Maske, die dazu geeignet ist Herrschaftsverhältnisse uninteressant zu machen. Die Interessensprovinz ist daher nach-ideologisch. Sie basiert nicht auf dem Versuch Tatsachen zu verschleiern, sondern darauf sie schlicht zum Faktum zu machen. Meinung wird zum Tenor des Denkens, der Konsum von Meinung zum sanften Terror der Gesellschaft, die das Haben über das Sein stellt.

Wie wir von Günther Anders erfahren können, sind Ideologien antiquiert, also nicht mehr zeitgemäß und dasselbe gilt für ihre Wirkung. Das Zeitalter der Massenbeeinflussung wie Anders es ausdrückt, ist eines des „sanften Terrors“2. Die Ideologie ist schlicht nicht mehr nötig. Das nicht-sein der Lüge in der Gesellschaft ist eigentlich ihr nicht-mehr-nötig-sein. Anders stellt etwas konsterniert fest: „Noch nicht einmal zu lügen braucht man mehr.“3 Hier erweist sich der nach-ideologische Charakter der Interessensprovinz klar und deutlich. Ideologie war gezwungen Wahrheiten zu verschleiern um ihre Wirkung zu entfalten. Die Interessensprovinz ordnet einfach alles der Wahrheit des Konsums unter.

Angenommen „Konsumieren ist eine Form des Habens4 wie Erich Fromm feststellt, dann könnte das bedeuten, dass Meinung zu haben ein Vorgang des beständigen Konsumierens von Meinung ist. Wir werden mit unseren Meinungen und Weltbildern beliefert und besitzen sie durch den beständigen Konsum. Nur wenn dieser Konsum aufrecht bleibt, bleibt Meinung als Funktion des Terrors ein Wert. Solange das so ist, bleibt der Wert der Meinung immer gebunden an die Interessen der Produzenten von Meinung, die schon aufgrund der Gesetze von Angebot und Nachfrage gezwungen sind bestimmte Meinungen auf den Markt zu werfen. Der Konsum der Meinung, der uns zu ihren Besitzern macht, macht uns damit zu Einwohnern der Interessensprovinzen. Der Konsum der Meinung und die Aneignung von Meinung über den Konsum machen es zu einer Selbstverständlichkeit, dass Meinung produziert wird. Es gibt also Produzenten von Meinung deren Produkte über beständigen Konsum zu Teilen unseres Denkens werden und sich über die Interessensprovinzen als Denken an sich manifestieren. Das Verhältnis zwischen Produzent und Konsument gestaltet sich allerdings auf verblüffende Weise. Nicht wie bei einer Ideologie die als Rechtfertigungs- oder Verschleierungsideologie sich daran macht gesellschaftliche Zusammenhänge dem kritischen Blick zu entziehen, sondern in einer ganz unverblümten Form. Nämlich in der, dass die Produzenten unserer Meinung, keine Furcht haben vor der Demaskierung der Tatsache dass sie die Produzenten unserer Meinung sind. Dies liegt mittlerweile selbst schon wieder in einem durch die Interessensprovinz erzeugten Faktum, nämlich der Konsequenzlosigkeit dieses Faktums. Unsere Gesellschaft hat sich damit abgefunden in Interessensprovinzen zu zerfallen, weil sie akzeptiert hat, dass es faktisch so ist. Günther Anders beschreibt dieses Zusammenfallen von Meinung und Denken, von Konsumgut und Terror folgendermaßen:

Das Endziel besteht darin, die Untertanen so zurecht und ‚fertig’ zu machen, dass sie anders als falsch gar nicht mehr handeln können und auf Grund ihres So-gehandelt-habens davon überzeugt sind, ihre Handlungen auch gewollt zu haben.5

Was auf den ersten Blick wie eine Begründung in Form eines Zirkels wirkt, ist in ihrer Wahrheit die gesellschaftlichen Interessensprovinzen betreffend eine brillante Analyse. Eine Erklärung dafür kann uns Erich Fromm liefern. Nach seinen Überlegungen könnte man unterstellen, das unser Denkprozess, während er die Wirklichkeit zu verarbeiten versucht, stets bemüht ist die ihm dargebotenen Illusionen nach den Gesetzen der Logik und Plausibilität zu organisieren. Diese Gesetze der Logik, sind aber keineswegs Naturgegebenheiten, sondern zu Meinungen verdichtete Denkprozesse deren Gültigkeit in bestimmten wissenschaftlichen Denkprovinzen als Realität erachtet wird. Wir stehen im Falle der nach-ideologischen Aneignung von Meinung durch die Interessensprovinz also nicht vor einem gänzlich neuen Problem gesellschaftlicher Denkprozesse, sondern vor einem grundlegenden und genuin gesellschaftlichen Problem, das nur seine Quantität in bisher ungekanntem Masse zu steigern im Stande ist.

Ich behaupte daher, dass diese Denkprovinz 1. vielfach existiert; 2. entscheidenden Einfluss auf die menschliche Gesellschaft ausübt; und 3. nicht absichtsvoll hergestellt wird, sondern vielmehr den Tendenzen nachkommt denen sich die bürgerliche Gesellschaft als kapitalistische Gesellschaft unterwirft. Das Denken unter Aufsicht der Gemeinschaft ist ein Problem, dass alle betrifft, aber nur individuell gelöst werden kann. Man muss diese Provinz des Intellekts verlassen, um reflexiv gegen den Primat des Konsums als sanftem Terror vorgehen zu können, und man darf dies nicht als Teil einer Interessensprovinz tun. Wo allzu große Einigkeit herrscht (und sei es auch in Bezug auf Gesellschaftskritik) ist die Provinz oft schon bestens etabliert. Diese Form der Anpassung, die ich weiter unten als „Gefolgschaft“ bezeichnen werde, kann das Denken destabilisieren und zur reinen Meinung verkommen lassen. Es gilt also die Aufforderung des unangepassten Denkers:

„Das unangepasste Wesen muss sich seine Welt schaffen, weil es keine gibt, die für es vorhanden wäre.“6

Denn in seiner Sanftheit ist der Terror des Massenkonsums keineswegs harmlos, sondern eben das was er ist. Terror, durch Konsum. Terror deshalb, weil Meinung vom Denken Besitz ergreifen kann, sowie die Gesetze des Marktes von der Meinung. Die Provinz existiert in uns und prägt unser Leben ständig. Sie liegt nur nicht dort wo uns der Gegensatz von Stadt und Land sie vermuten lässt.

Theodor Adorno stellt dazu eine bedenkenswerte Überlegung an in dem er in der Verkürzung der Sprache und der Reduktion auf die Parole einen Teil des Übels ausmacht:

Nach der Phrase, es käme allein auf den Menschen an, schieben sie alles den Menschen zu, was an den Verhältnissen liegt, wodurch dann wieder die Verhältnisse unbehelligt bleiben.“7

Das Übel der Phrase, sei es diese oder eine andere, ist charakteristisch für das Sprechen im Jargon des Stammtischs und eine wirkungsvolle Weise um Meinung zu konstruieren. Ihr Übel liegt nicht darin, dass sie willentlich, oder wissentlich die Unwahrheit sagt, sondern darin, dass sie nicht darüber nachdenken kann. Sinnsprüche, Halbwissen und Schläue sind die gängigen Zuschreibungen zum Begriff Stammtisch. Sie sind in der Auseinandersetzung an ihm sakrosankt, weil sie Mittel des Stolzes sind und dieser sich, ohne die Regulation durch Selbstkritik und Selbstzweifel freie Bahn bricht. Adorno bemerkt hierzu treffend: „Der Rechthaber entwickelt, um nur ja die narzisstische Schädigung von sich fernzuhalten, die ihm durch die Preisgabe der Meinung widerfährt, einen Scharfsinn, der oft weit seine intellektuellen Verhältnisse übersteigt.“8

Das Gespräch am Stammtisch und der Konsum von Meinung haben also neben der sozialen Funktion der gemeinschaftlichen Aufarbeitung täglicher Probleme eine weitere, eher unbewusste Funktion. Die Fixierung dessen was ist. Das Denken im absoluten Einverständnis mit anderen erfordert eine ungesunde Möglichkeit zur Selbstverleugnung. Der Zwang, der durch die parochiale Situation hervorgerufen wird, ist eine ideale Voraussetzung für diese Form der Wahrheitsfindung innerhalb einer aporetischen Struktur. Diese Struktur wird durch eine unlösbare Frage konstituiert deren Auflösung auch gar nicht intendiert ist. Sie repräsentiert also eine Verlegenheit der Wahrheit und ist in diesem Sinn die Voraussetzung für das Funktionieren des Stammtischs als integratives Moment einer Gesinnungsgemeinschaft, es ist aber gleichzeitig das Moment, das kritisches Denken in dieser Situation ausschaltet. An Stelle der kritischen Auseinandersetzung mit Problemen, die ein gewisses Maß an Selbstreflexion einschließen würde, wird das Beharren auf dem Selbstbild der Gruppe, die keine Möglichkeit hat dieses zu verifizieren, zum Ausgangspunkt der Ideenbildung. Das Selbstbild geht vielfach einher mit Selbstüberhöhung, Selbstmitleid, Selbstschutz und Selbstgerechtigkeit, derer auch ansonsten kritische Individuen innerhalb solcher Strukturen nur schwer Herr werden können. Die Selbstbehauptung der Meinung stellvertretend für die Behauptung des eigenen Status in der Gruppe, löscht die Selbstkritik aus, ohne überhaupt in Frage gestellt zu werden und wandelt das Denken in reine Meinung. Denn die Trübung dessen was außerhalb der Parochie ist, beeinträchtigt auch die Möglichkeit der klaren Erkenntnis dessen was sich innerhalb ereignet. Die Abgrenzung nach außen wird damit zur Ausgrenzung des kritischen Verstandes. Die Selbstbehauptung denunziert die ansonsten in der modernen Demokratie zur Schau gestellte Toleranz und Vernunftfähigkeit als Schein. Der Glaube an die Eigenmächtigkeit des Denkens, das sich nur anzugleichen braucht indem es dem Stammtisch hinterherdenkt und rein auf die Interessensprovinz bezogen ist, ist eine Wendung gegen die Demokratie in Form der Ablehnung der eigenen Verantwortung. Die Meinung enthebt von der Notwendigkeit Verantwortung zu übernehmen, da sie eine Interessenssituation herstellt in der es ausreicht im Einklang mit der Mehrheit zu denken. Das Tischgespräch als Ort des Austauschs bürgerlicher Gesellschaftlichkeit kaschiert den täglichen materiellen Überlebenskampf in Form des willentlichen gemeinschaftlichen Selbstbetrugs. Das Schicksal der materiellen Reproduktion, deren scheinbare Imperative die Verdinglichung des Lebens als totale Gleichmachung (nicht zuerst des Lebens mit den Dingen, sondern der Lebensformen untereinander) betreiben, ereilt in Form der aporetischen Struktur Stammtisch das Denken am schnellsten und effektivsten.

Mit Theodor Adorno gesprochen, ist „das objektive Ende der Humanität […] nur ein anderer Ausdruck für das Gleiche9. Dieses ist das Gleiche, das sich in der Meinung am Stammtisch innerhalb der Struktur von Wahrheit und Lüge, von Wirklichkeit und Möglichkeit als gesellschaftlicher Grundkonsens präsentiert. Der Einzelne wird zur reinen Projektionsfläche gesellschaftlicher Instinkte degradiert. In der „Illusion der Privatheit10 zerbricht das Denken des Einzelnen an der medialen Überfütterung, die den Menschen als „eine Qualität von Millionen Einzelnen11 organisiert und so dessen gesellschaftliche Kritikfähigkeit korrumpiert. In der Illusion der Öffentlichkeit, die sich in Form des Stammtischs darbietet unterwandert die aporetische Struktur das kritische Denken. Die Dialektik von Subjekt und Objekt, deren Inhalt das Denken sonst bestimmt, verliert in dieser Situation den Charakter der Denkbewegung und wird zum Denkzirkel, dessen Grenzen das Außen im Gegensatz zum Innen bestimmen und darin ihre Wirkung erzielen, ohne diese argumentativ unterlegen zu müssen. Der Stammtisch, als Ort des Austausches von Meinung, existiert nur als solcher und würde sich in jeder anderen Funktion ad absurdum führen.

Zu sagen, dass es also müßig wäre dieses Phänomen zu diskutieren, ist aber eine gefährliche Verkennung der Wirkungsmöglichkeiten dieser aporetischen Struktur. Denn ihre Effekte sind manifest und die Wirkungen der gesellschaftlichen Konstellation Stammtisch beschränken sich nicht (wie der im Wort Provinz vereinte Gegensatz von Stadt und Land) auf die Wirtshäuser und Gaststätten der ländlichen Gebiete oder auf die Cafés und Bars der Großstädte. Der Stammtisch ist als gesellschaftliche Chiffre ein Phänomen für die Beschränktheit des Denkens in uns allen, die sich in bestimmten gesellschaftlichen Konstellationen manifestiert. Der Stammtisch ist überall aufzufinden wo solche Konstellationen auftreten. Das kann auch die Experten des Denkens betreffen. Ob an Universitätsinstituten oder (und viel häufiger) in universitären Verbindungen. Wo sich Meinungsgruppen zu Gesinnungsvereinigungen zusammenschließen leidet die kritische Distanz zum behandelten Problem weil diese Gesinnungsgruppen immer (in gewisser Hinsicht) Gefolgschaft von ihren Mitdenkern fordern. Die Problematik eines derart strukturierten Expertentums erstreckt sich in alle Ebenen der Gesellschaft und kann zu starken Beeinträchtigungen des kritischen Denkens über die jeweiligen Disziplinen hinaus führen. Der teilweise blinde Glaube an diese Formen des Expertentums ist ebenso ein Effekt der aporetischen Struktur, wie Adorno in einer Vorlesung festhält, wenn er darauf hinweist, dass vielfach die Überzeugung besteht, dass diejenigen Leute, „die um den grünen Tisch sitzen, eine Art von Gurus sind, die sich im Geheimnis befinden12.

Die Gefahr dieser Gefolgschaft wird dann manifest, wenn es um die Meinung anderer und ihr Recht sie auszusprechen geht. Darüber hinaus aber auch in der beschriebenen Form, nämlich dann, wenn es um die Möglichkeit des Einzelnen geht sich von den Einflüssen der Meinung frei zu halten. Dieser Begriff, Gefolgschaft, scheint ein Schlüssel zu sein für das Verständnis der aporetischen Struktur und an ihm offenbart sich der Abend des Denkens als Vorbote der jederzeit lauernden Finsternis der Menschlichkeit. Victor Klemperer stellt in seiner „Lingua Tertii Imperii“ die Gefahren des Begriffs Gefolgschaft sehr eindringlich dar. Ich werde die relevante Passage abschließend vollständig zitieren und denke sie spricht in dieser Sache für sich:

Gefolgschaft! Was waren denn die Leute, die dort zusammenstanden, in Wahrheit? Arbeiter und Angestellte waren sie, die gegen eine bestimmte Entlohnung bestimmte Pflichten erfüllten. Alles zwischen ihnen und ihren Arbeitgebern war gesetzlich geregelt; möglich, aber durchaus unnötig und vielleicht sogar störend, dass zwischen den Chefs und einzelnen von ihnen auch irgendeine Herzensbeziehung bestand. – Regulativ für alle war jedenfalls das unpersönlich kühle Gesetz. Und nun im Gefolgschaftssaal wurden sie aus der Klarheit dieses Regulativs herausgenommen und durch ein einziges Wort kostümiert und verklärt: Gefolgschaft, das belud sie mit altdeutscher Tradition, das machte sie zu Vasallen, zu waffentragenden und zur Treue verpflichteten Gefolgschaftsleuten adliger, ritterlicher Herren. War solche Kostümierung ein harmloses Spiel?

Durchaus nicht. Es bog ein friedliches Verhältnis ins Kriegerische; es lähmte jede Kritik; es führte unmittelbar zur Gesinnung jenes auf allen Spruchbändern prangenden Satzes:

Führer befiehl, wir folgen!

Stefan Marx, 12. Dezember 2008

Literatur:
Adorno, Theodor W.: Philosophische Terminologie. Band 2, Frankfurt 1974.

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia, Frankfurt (1951) 1988.

Adorno, Theodor W.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte, Frankfurt (1977) 2003.

Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München (1980) 2002.

Fromm, Erich: Haben oder Sein, München 2007.

Killy, Walther/Szklenar, Hans [Hg.]: Georg Trakl. Das dichterische Werk, München (1972) 2005.

Klemperer, Victor: LTI, Leipzig (1957) 2005.

Liessmann, Konrad Paul: Günther Anders, München 2002.


1 Trakl, Georg: Veröffentlichungen im ‚Brenner’ 1914/15 (85-99), in Killy, Walther/Szklenar, Hans [Hg.]: Georg Trakl. Das dichterische Werk, München (1972) 2005, 90.

2Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München (1980) 2002, 188.

3 Ebda: 190.

4 Fromm, Erich: Haben oder Sein, München 2007, 43.

5 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München (1980) 2002, 191.

6 Liessmann, Konrad Paul: Günther Anders, München 2002, 33.

7 Adorno, Theodor W.: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (555-573), in ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte, Frankfurt (1977) 2003, 560.

8 Ebda: 576.

9 Adorno, Theodor W.: Eigentumsvorbehalt (39-40, in ders.: Minima Moralia, Frankfurt (1951) 1988, 40.

10 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen 2. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München (1980) 2002, 82.

11 Ebda: 81.

12Adorno Theodor, W.: Philosophische Terminologie. Band 2, Frankfurt 1974, 8.

13 Klemperer, Victor: LTI, Leipzig (1957) 2005, 303/304.


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