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Lo Senti Mental

von am 11.04.2007 10:59, Rubrik

Eine leichenfreie Wertheriade


Wenn ich wo sein wollte, wärs Kaltern. Am See. Mit Nati, Eve und Michi. Unser Bierglas stemmt feuchte Ringe auf das kobaltfarbene Spitzenmillet und wir blicken seitwärts zu den dümpelnden Tretbooten. In ihrem ausgewaschenen Rot schlingern sie dahin über den leicht begrünten Wasserteint. Strand und Cafeterrasse sind voller Menschen in hellen, kurzen Blousons. Und natürlich zu Tisch: Die Neckermannbusreisengesellschaft. Sitzt weiß besockt im Seniorenreigen um einen Eisbecher, üppiges Sahnehäubchen obendrauf, flockig garniet zu pinker Cocktailkirsche. Fernweh eingepökelt in beigen Gesundheitslatschen. Immer schön mit Reiseleiter und Kukident.

Unser Lächeln ist schon ganz verschwitzt wie wir den Rauch aus den Zigaretten saugen, stegseitig räkelt sich Bauchfreies im Bermudas und auf der Wiese grast der pomadige Latin Lover Verschnitt mit schwarz gefasster Ray Ban. Sitzt da mit rasierter Brust, macht voll auf Surfer, ein in der Wolle gefärbter Muckimann. Geniesst das leicht beschürzte Panorama im Bikini. Lecker Aussichten: In Kabine und Kulinarium. Bruschettaschwaden dampfen aus dem Seerestau, verlassen die Küche auf einem Tablett, geschultert von allerhand Kellnern. Eine junge Dame gähnt uferseitig in die Sonne, ihr Freund in ein fremdes Dekollettee. Maritime Gelassenheit in schulterfreiem Outfit.

Das Leben ist leicht wie ein Eistee. Abgekühlt. Süß und klebrig.

Die Erinnerung verdunstet auf kahlen Backsteinfassaden, die jede grüne Wiese rasieren. Ich sitze im vorstädtischen Tetrapack einer Wohnsiedlung, fröhlich aluminiert im desolaten Ruhrgebiet. Cafeterrassen gibts hier auch, aber in Einkaufszentren, nicht als open air, versteht sich. Und wenn, dann eingehüllt im Smogaroma der Fabriken, die ständig aufstocken. Überall Arbeiter. Kaputtgewerkte Menschen, ein getrimmtes Völkechen hier. Fallobst, Gesellschaft ohne Neckermannbus. Ich will mein Ticket für Heimweh einlösen, aber meine Finger sind ganz taub, blutleer in peripherer Leichenstarre und die Schalter alle geschlossen.

Das Leben ist schwer wie Beton. Bitter und ausgebrannt.

Zum Glück sind die Notausgänge abgesperrt, ein Zitat aus meinem Traum.


Kommentare

Fulminant.

Das Leben ist leicht wie ein Eistee. Abgekühlt. Süß und klebrig. ... er wird erst klebrig wenn er abgestanden ist, nicht mehr abgekühlt. wenn das ticken der eiswürfel im glas nur mehr eine verblassende erinnerung ist, und vielleicht sogar schon eine hirnverbrannte obstfliege als chitinsteife wasserleiche im glas treibt.

eine binsenweisheit: mit dem abstand kommt das heimweh. und da du quasi eine reise back to the roots unternommen hast, dich dahin zurückgewagt hast wo die neckermannbusreisegesellschaft ihren winter verbringt. aber bedenke. die hirnleichten muskelmänner mit den stielaugen sind das ganz jahr über hier. ein aphorismus, ganz schnell – ähnlich gnadenlos wie die backsteinfassaden die das grün rasieren: auf diesem tetrapack steht zwar capri-sonne, aber es schmeckt trotzdem gleich pappig wie jedes andere.

echt: fulminanter text

r. · 11.04.2007 14:15 · #

Brisant!
Ob Dus glaubst oder nicht. An die Eiswürfel hab ich auch gedacht und hab sie in erster Fassung stehen. So wie sie an den Glasrand klimpern. Freut mich sehr um die Bildhaftigkeit des Textes oder wie man da sagt…(grübel)...

Raffts Röckchen zum Hofknicks: Merci mon cher.

Ich weiß um die sommerüberdauernden Stielaugen der “Hirnleichten” in pseudomediterrander Winterstarre. ;)

A bientot

Ana · 12.04.2007 02:29 · #

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