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Friedrich Kittler - einem Genie in Gedenken

von am 19.10.2011 14:38, Rubrik

“Friedrich Kittler ist tot. Damit hat “die Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften” den medialen Nullpunkt des kommunikativen Transitverkehrs erreicht. Nun sind beide tot, der Geist und sein Exorzist, Kittler selbst. Es folgt ein Nachruf, der eine Hassliebeserklärung auf den Meister ist. Den genialen Fiesling, den einstigen Freiburger Germanisten, der mit seinen “Aufschreibesystemen 1800/1900” als Provokateur den angestaubten Haudecken, der Magnifizienz an den FAKultäten, mal so richtig den Finger gezeigt hat und den Germanisten ihre übelst misshandelte Hemeneutik aus und und abgetrieben und sich damit selbsternannt in die legitime Nachfolge Nietzsches eingereiht hat. Als jemand, der das Philosophieren mit dem Hammer wörtlich genommen hat. Mit einem Werkzeug.”


“Ich kann alles sagen was ich will” – Wie Literaturwissenschaft definitiv nicht funktionieren sollte!

I Handschrift
Den Anspruch Friedrich Kittlers sich als Literaturwissenschaftler gegen die Hegemonie eines Redundanz erzeugenden Kommentierens innerhalb seines Faches aufzulehnen, das nichts weiter als Verdoppelungseffekte in den eigenen Reihen zeitigt, wird durch sein selbstbewusstes Diktum einer Orientierung an den Fakten, den Medien, verkörpert. Dementsprechend ist der implizite Leitspruch Kittlers „Zurück zu den Fakten !“ ein Programm, das sich gegen jegliche Art von Willkür und frei flottierender Textexegese ausspricht, mithin ein antihermeneutischer Imperativ. Zurück zu den Fakten, bedeutet für Kittler, die Sinnsuche zwischen den Zeilen einzustellen und den Fokus von dort weg, auf das Schreibwerkzeug zu verlagern, das Kittler unter der gängigen Bezeichnung der Hardware subsumiert und deren Einfluss auf die Textproduktion ausschlaggebend ist. Inspiriert durch die Foucaultsche Terminologie hat Kittler für dieses Phänomen, den ominösen Begriff des „technischen Apriori “ eingeführt, um dadurch den diskursanalytischen Zusammenhang zwischen Werk und Werkzeug, geschliffen formuliert, den Bezug von literarischen Texten und deren Produktionsmedien, die sich in derselben historischen Umgebung bewegen, herzustellen, und damit ein für ein bestimmtes Zeitalter signifikantes Aufschreibesystem festzumachen. Die in einer Epoche dominierende Geisteshaltung, das dikursphilosophische Fundament, hängt in diesem Sinne eng mit der technischen Entwicklung von Medien zusammen, bzw. ist das mediale Setting einer Zeit, Bedingung für spezifische mentalitätsgeschichtliche Ereignisse.

Das Aufschreibesystem 1800 ist nach Kittler der Muttermund – bei allen polymorph perversen Implikationen die dieser Begriff bereit hält. Alphabetisierung ist hierbei das große Stichwort und genau das, was die geistegeschichtlichen Ingenieure wie Stephani und Herder im Sinn hatten, als sie sich an den Entwurf einer neuen Pädagogik heranbemühten, um den Kindern das Sprechen beizubringen. Ein Sprechen, das nicht in dem Auswendiglernen und Rezitieren von Katechismen besteht, sondern direkt aus dem Schoße der Natur, dem Muttermund als Säuseln, Flüstern, als mimetische Angleichung von Naturlauten besteht. Die Mutter lehrt dem Kind nicht die Sprache, sie macht das Kind sprechen. Durch das laute Vorsprechen, das Dehnen der Vokale und Säuseln der Konsonanten, schafft der Muttermund einen nahtlosen Übergang von der phonetischen Natur des Lautes zu dessen künstlichen und deshalb materiellen Sekundanten, dem Buchstaben des angeschriebenen Alphabets. Wichtig bleibt dabei in Anlehnung an Stephanis Syllabiermethode, dass die Aussprache des Buchstabens, rein stimmlich, als ein Vibrieren erfolgt und nicht jeder Buchstabe von einem Vokal begleitet wird. Eine aus dem sozialreformatorischen Beamtenwesen implementierte Lautiermethode, weist der Mutter ihren Platz im Aufschreibesystem 1800 an, den sie als Nahtstelle zwischen unterweisender Pädagogik und Natur, besetzt. Sie besetzt diese aber auch in einer Weise, die eine ödiplae Beziehung zwischen Mutter Kind überhaupt erst ermöglicht. Psychoanalyse ist für Kittler Diskursananlyse. Erst durch ein historisches Dispositv, eine spezifische soziokulturelle Konstellation, wie sie sich hier als eine “Kodierung der Konjugalfamile” durch Stephani und Co erfolgen, lässt sich, das was Freud später zum umstrittensten Mann seines Jahrhunderts ernannt hat, deduzieren, den Ödipuskomplex. Dessen Scharniertselle ist Kittler zufolge eine mediale Neukodierung, das Alphabetieren aus dem Muttermund. Die Stimme als Medium aus dem Muttermund ist damit die inzestuöse Matrix der Epoche und das spätere Fundament des Wiener Analytikers.

Was aus dem Muttermund hervorquillt sind selbstverständlich jene transzendenten Innereien, die den Geist einer ganzen Epoche und ihrer Philosophie beleben sollte. Den Anfang macht sie in der Weimarer Klassik durch die Dichtung Goethes und Schillers, die parallel zu der Romantik lufen. Ihre Vorliebe für Minimalsignifikate sind ein nicht zu unterschätzendes Indiz für das Sprechenlernen aus dem Muttermund und letztendlich dafür, dass Sprache und mit Sprache ist dabei immer Oralität gemeint den Ausfluss der Innerlichkeit bedeutet. Die Seele findet sich in diesen Minimalsignifikaten der Sprache, die als Laute aus dem Muttermund auf den Dichter übertragen wurden. Das epochenmachende “ach”. Aber nur in einer väterlichen Schreibstube kann er das Schreiben lernen. Erst der Zusammenschluss mit einer beamtischen Institution der Universität, kann sich das Individuum des Dichters formen. Ein Individuum, das nur durch die eigenhändigen Schönschreibübungen zu dem spezifischen Genius gelangen kann, das ihn und seine Dichtung auszeichnen wird, evoziert durch das Begehren zu einer „romantischen Liebe zu einer Frau“, die im Grunde genommen nur ein inzestuöser Abzug der Muttermundes ist. Zu beachten bleibt dabei stets, dass die verschriftlichte Sprache nur der Kanal ist, der den schöpferischen Geist des Dichters mit dem Papier verbindet. Die Schrift ist nur der Sekundant der Seele. Und so muss der Autor in diesem Verband von Seele, die sich in seiner Handschrift spiegelt und dem Papier, ein multimediales Register aufrufen, um alles Sinne des Lesers zu bedienen, kurz: ein Kopfkino entstehen lassen. Dieses Kopfkino evoziert die Romantische Dichtung, indem sie die Anteile des Realen (der Stimme) mit dem Geist (Imaginären) durch die Schrift (Symbolischen) verschaltet.

II Maschinen-Schrift
Um 1900 verteilen sich die Lacan´schen Register des Imaginären, des Symbolischen und Realen, die vormals ein Privileg des Kopfkinos Romantischer Dichtung waren, auf drei technische Revolutionen: das Grammophon, den Film und den Typewriter. Das Grammophon stellt gleichsam ungefiltert das menschlich Reale aus, indem es ermöglicht, die Stimme, den Ausfluss der Innerlichkeit auf ein Tonband abzuspeichern, von wo aus diese beständig abrufbar bleibt. Der Film bietet als visuelles und auditives Medium einen direkten Blick in des Dichters Kopf, den Imaginären Raum, der sich fortan durch die serielle Aneinanderreihung von Kodakbildern als Bewegung auf eine Leinwand bannen lässt, und entthront damit die Vormachtstellung der poetischen Ergüsse aus der Epoche des deutschen Idealismus. Was die vollständige Entmachtung der männlichen Autorschaft betrifft, so wurde die Zerschlagung dieses „sexuell geschlossene[n] Regelkreise[s] der Gutenberggalaxis“1 schon 1872 durch den Prototypen der Remington Schreibmaschine sukzessive vorbereitet.

Die Schreibmaschine kann nichts Imaginäres herbeizaubern wie Kino, nichts Reales simulieren wie Klangspeicherung; sie verkehrt nur das Geschlecht des Schreibens. Damit aber die materielle Basis von Literatur.2

Der Muttermund scheint um 1900 in eine gänzlich neue Anatomie überführt, die von einer leiblichen Metapher in einen technisierten Schreibkörper mündet. In der englischen Bezeichnung für Schreibmaschine, dem Typewriter kommt, kraft des semantischen Doppelsinns des Wortes, der Zusammenfall von Maschine und Maschinistin, Frau und Schreibgerät, unmissverständlich zum Tragen. Erschöpfte sich vormals das Dasein der Frau in der Gleichung von Mutter und Natur, Geliebter und Schreibpapier, tritt dieser radikal essentialistische Blickpunkt zugunsten einer neuen Ontologie in den Hintergrund. Das Datum 1900 beendet das weibliche Mutter und Geliebtendasein mit der Platzierung der Frau an die Schreibmaschine. Die Schreibmaschine „desexualisiert“3 die bipolare Geschlechterordnung, indem sie den Griffel mit dem romantische Dichter eigenhändig schrieben, aufgrund des ökonomischen Vorteils beim Schreiben die ersten Maschinen erreichen ein für die Zeit von 1889 beachtliches Quantum von 125 Wörtern pro Minute endgültig in die Schublade verbannt und die Nadel, das Attribut der weiblichen Näharbeit, durch die Anschlagnadel des Remington Schreibgerätes ersetzt.

Der Wortsinn von Text ist Gewebe. Folglich hatten die zwei Geschlechter vor ihrer Industrialisierung streng symmetrische Rollen: Frauen, das Symbol weiblichen Fleißes in Händen, schufen Gewebe, Männer, das Symbol männlichen geistigen Schaffens in Händen, andere Gewebe namens Text. Da der Griffel als singuläre Spitze, dort die vielen Leserinnen, die er beschrieb.4

Wenn nun weibliche und männliche Hand nicht mehr durch streng differenzierte Symbole attribuiert werden, werden sie beliebig und austauschbar. Mit dem Verschwinden der individuellen Handschrift durch die gestanzte und vereinheitlichte Maschinenschrift, büßt der Dichter seinen Status als Schöpfer, mithin als Individuum ein, und hört auf ein geschlossenes Subjekt zu sein. Zum Objekt einer experimentellen Wissenschaft gemacht, zerleget diese die vermeintlich unteilbare Einheit des In-di-viduums in seine physiologischen Einzelteile. Körper und Seele liegen nicht mehr in der persönlichen Handschrift codiert, sondern werden zum Gegenstand der Psychophysik, die den Apperzeptionsapparat in seine Bestandteile auflöst und dessen Bewegungen akribisch studiert und ausdifferenziert. Mit dem Blick auf die menschliche Sinnesphysiologie, auf die Hardware von Sprech- und Schreibfunktion, öffnet sich eine Perspektive auf den menschlichen Körper, die seine Funktionen und Fertigkeiten wie das Laufwerk einer Maschine erscheinen lässt. Besonders deutlich und markant kommt diese Phänomenologie durch eine spezifische Aufmerksamkeit an physiologischen Störungen zum Tragen, die sich verhäuft an heimgekehrten Soldaten aus dem Bürgerkrieg 1864 abzeichneten. Deviationen im Bereich des Schreibens und Sprechens wie Agraphie und Aphasie, bestätigen nicht nur die allgemeine Fähigkeit zur Lautbildung und die Vernetzung bestimmter Arreale des Gehirns mit der Bewegung von Mund oder Hand, sie machen es auch möglich genau dieses Prinzip, sprich den Nexus von Zentralnervensystem und ausführendem Organ, aus seiner natürlichen Umgebung zu dislozieren und auf ein technisches Gerät zu übertragen, das fortan als Prothese für Blinde, Taube e.t.c dienen soll, als Behelf für deren Kommunikation. In anderen Worten entspricht den Aufschreibesystemen 1900 eine ausdifferenzierte Sinnesphysiologie von Sprechen und Hören (Grammophon), Sehen und Einbildungskraft, welche gleichsam visuell vermittelt werden (Film) und dem Tastsinn (Typewriter). Dass damit Sinnlichkeit ausgesondert erscheint, ihr regelrecht eine Autonomie zugesprochen wird, die sich aus den Büchern der Romantischen Dichtung erfolgreich emanzipieren konnte, wo man noch dem Zusammenspiel der genannten Sinne unzerstückt frönen durfte, scheint mehr als nur evident zu sein. Und nur allzu passend gesellt sich ungefähr zeitgleich zu den technischen Umwelzungen eine psychosoziale Umwertung des Menschen hinzu, die nach der Kopernikanischen Wende eine ebenso bittere Demütigung für diesen bedeutet, der, nachdem sein Planet die vermeintliche Hegemonie im Universum einbüßen musste, nun feststellen muss, dass das Subjekt keine geschlossene Einheit darstellt, sondern nach Sigmund Freud aus einem topischen Modell von Ich, Über-Ich und Es besteht, über welche der Mensch nicht frei verwalten kann, sondern welche ihn vice versa selbst regieren. Durch den Verlust des autonomen Subjekts befindet sich der Idealismus in einer Krise, die ihn nach und nach immer unmöglicher erscheinen lässt.
Konnte der Dichter der Klassik und Romantik stets bei sich und seinem Geschriebenen sein, so wird das von seiner Hand und damit aus seinem Verfügungsbereich entkoppelt und autonom, der Schreibprozess gleichsam automatisch um nicht zu sagen unbewusst. Dass damit ein Paradigmenwechsel in der Literatur des 20. Jahrhunderts eingeläutet wurde, der durch Maschinenschrift in maschinelles, mithin automatischen Schreibens mündet, ist, wenn man sich des Dadaismus und Expressionismus gewahr wird, nicht mehr von der Hand zu weisen. Die Ausrangierung des Imaginären und Realen aus der Dichtung, ihre selbstständige Neupositionierung in Film und Phonograph, zeitigt einschneidende Konsequenzen für die Literatur, die sich durch den Verlust der beiden genannten Register auf ihr bloßes Symbol zurückgeworfen sieht und damit ihre Materialität.

Dass diese Materialität die Geschlechter desexualisiert und den Frauen einen Platz an der Schreibmaschine einräumt, die aufgrund der herrlichen Bipolarität des Wortes Typewriter, Maschine, also Schreibwerkzeug und zugleich Frau bleiben dürfen, ist bereits einigermaßen sattsam ausgeführt worden. Gründe für diese Enthierarchisierung des Beamtenwesens, finden sich in der während der Bürgerkriege und Weltkriege ausgedünnten Manneskraft und den dadurch immer vernehmbarer werdenden Schrei von Schriftstellern und Philosophen nach einer Sekretärin, die ihre durch den Klavierunterricht geschulten Fingerfertigkeiten, an der Maschine erproben soll. Eine Tendenz, die in der ersten Hälfte Frauen den Zugang zur Universität und höherer Bildung öffnet und die paradoxerweise von einem, das weiblichen Geschlecht nicht besonders schätzenden, Philosophen ausschlaggebend begünstigt worden ist: Ausgerechnet Friedrich Nietzsche, leistet der weiblichen Emanzipation entscheidend Geburtshilfe, indem er nach einer Sekretärin und Assistentin fordert, die seinen hohen Studien gewachsen ist. Friedrich Nietzsche ist gewissermaßen die Konvergenzstelle, an der das alte Aufschreibesystem 1800 und das neue Aufschreibesystem 1900 zusammen laufen und sich naturgemäß abstoßen müssen. Wenn auch Nietzsche im Grunde genommen in die Lehre des Aufschreibesystems 1800 durch einen preußisch geprägten Schulstaat gegangen ist, so beklagt er doch den in dieser Institution inflationär gewordenen und geradezu wörtlich genommenen Status von Autorschaft. Die allgemeine Alphabetisierung die um 1900 „schließlich 90% der Leute über sechs Jahren“1 erfasst, hat einen negativen Begleiteffekt, der in der Schulpflicht und den Aufgaben besonders deutlich zum Tragen kommt.

„Hermeneutisches Lesen, vormals zu Zwecken seiner Versüßung als Fertigkeit oder gar Gefühl gerühmt, erntet [allen voran von Friedrich Nietzsche, Anm. A.I.] nur noch Spott und den Titel Lüge. Die allgemeine Alphabetisierung, nicht mehr aus der Innenperspektive ihrer Nutznießer, sondern ganz ohne Gefühle als diskursive Handgreiflichkeit beschrieben, wird Anleitung zum Selbstbetrug und insofern zum profilierenden Künstlertum. Jene modernen Leser nämlich, die unter zwanzig Wörtern [Kittler spielt hier auf ein Konzept des Buchstabenerahnens bzw. Erratens an, ähnlich der Lautiermethode Stephanis] eine Zufallswahl von fünf treffen, um nur schnell Sinn divinieren zu können, tun das immer schon als Schreiber und Weiterschreiber.“2

Das Lehren von Hermeneutik, in der der implizite Appell individueller Textexegese gegeben ist, begünstigt eine Art von Autorschaft, die die Texte nicht ließt, sondern fortschreibt, Inhalte literarischer Vorlagen modifiziert ohne jedoch, die Geliebte aus dem Zeitalter romantischer Dichtung und Liebe als Einschreibefläche, sondern das Diktat einer Schulübung, den Deutschaufsatz als Vorgabe zu haben. In derselben Logik wie die Revolution ihre Kinder frisst, hat das Aufschreibesytem 1800 sich selbst abgeschafft, indem es Alphabetisierung und Autorschaft zu einem Schul und Allgemeingut ausgerufen hat, das seinen eigenen Diskurs parasitiert, indem selbsternannte Autoren Werke autorisierter Autoren weiter schreiben, ohne aber Leserinnen als Publikum oder Geliebte als Schreibfläche ausweisen zu können. Die Bildungsanstalten um 1900 lehren Autorschaft in Form des Deutschaufsatzes, an dem der Schüler seine individuelle Auslegung eines Werkes oder die seiner Persönlichkeit betreibt. Dies hat mit dem Aufschreibesystem von 1800 nur soviel gemein, als dass es seine Metaphern von Individuum und Autorschaft in deren wörtlichen Sinn verkehrt und somit nichts an Interpretationsspielraum übrig lässt. Die Schüler sind nur noch Kopisten einer Geisteshaltung. Und so konstatiert Nietzsche wie einst vor ihm Faust in der Isolation des Studierzimmers, dass die Schreibfläche nur mehr das ist was sie ist: Papier. Und die Tinte gleichwohl nicht mehr der reine, schöpferische Geist, sondern schwarze Flüssigkeit, kurzum erscheinen beide nur in ihrer Materialität. Eine Materialität, die sich nicht nur visuell, sondern auch auditiv manifestiert. Die Absenz des Geliebtenmundes macht das Kratzen der Feder auf dem Papier vernehmbar, den Laut der Materie, der ihm auch als Geräuschkulisse selbst im Ohr liegt ohne ein vorlautiertes Buchstabenrepertoir im Geiste zu tragen. Keine klassische Silben mehr, nur noch weißes Rauschen, das Nietzsche seinen Text souffliert.

Einer Philosophie aber der der Geist ausgetrieben wurde ist höchstens nur noch eine essenzfreie und deshalb schlechterdings keine, weshalb diesem Rauschen im Ohr kein menschliches Derivat zugesprochen werden kann und die Schriften Friedrich Nietzsches sukzessive immer fragmentarischer erscheinen und zu Aphorismen gerieren. Aphorismen, die Nietzsche zunächst selbst, aufgrund seiner fortgeschrittenen Erblindung an dem Modell eines Malling Hansen Schreibgeräts produziert, „eine® Maschine, deren kugelförmige Tastatur “ausschließlich durch das Tastgefühl“ bedient werden kann, weil „auf der Oberfläche einer Kugel jede Stelle schon durch ihre örtliche Lage vollkommen sicher bezeichnet ist“3. Nietzsche und die Schreibmaschine sind für Kittler gleich von mehrfacher Bedeutung. Allem voran begünstigt sie den experimentellen und aphoristischen Stil zu dem Nietzsche übergegangen ist, indem sie nun mal Typen und keine Handschrift produziert, die den von Nietzsche gedachten Leser, dazu anhalten sollen zu lesen, was geschrieben steht, anstelle hermeneutisch den Text fortzusetzen. Um den Interpretationsspielraum radikal zu beschneiden, wählt Nietzsche deshalb konsequent eine geringe, abzählbare Menge an Buchstaben ähnlich eines Telegramms. Die Verschränkung von hoher Qualität und geringer Quantität schwebt ihm dabei vor, wie es einst Horaz und nach ihm die Alexandrinische Dichtung als formvollendetes Ideal ausgerufen haben. Den Effekt, den das Schreiben an der Schreibmaschine zeitigt, ist genau dieses Konzept von Handschrift zu unterlaufen und die Zeichen nicht in einer mimetischen Verschlängelung abzubilden, sondern die Signifikanten differentiell zu definieren. Schrift wird an der Schreibmaschine zu einem Spiel aus Differenzen, die durch den Abstand von einem Buchstaben zum nächsten markiert sind, und auf dem weißen Grund, dem leeren Blatt Papier das sie beschriften ihre Alterität, das radikales Andersein ihrer Form und Figur behaupten. Unmissverständlich die daraus resultierende Erkenntnis, dass die Worte des Autors nicht vom Muttermund geformte Laute sind, sondern eine Selektion aus dem Buchstabenvorrat der 26 Zeichen des Alphabets (plus Leertaste). Und so ist sinngemäß die Qualität zwischen den Zeichen am allerhöchsten, wenn sie nicht in Schreibschrift unleserlich aneinander kleben, sondern von Abständen getrennt und so aphoristisch und bündig wie nur möglich sind, damit der Text nicht zur Umschweife einlädt.
Hatte Nietzsche durch seine Erblindung gezwungenermaßen, das Bücherkrämern der Philologie an den Nagel gehängt, sind die Aphorismen, die er in sein Gerät tippt kein Kommentar zu einem geschlossenen Buch, bestückt mit philosophischem Wissen, das die Arbeit des Philologen zum weiterdenken anregt. Nietzsche schöpft direkt und unvermittelt aus dem Inneren seines Kopfes in dem ein weißes Rauschen das Unbewusste dröhnt. Der Schreibakt selbst bedient sich keiner Vorlagen, sondern transponiert ein unsichtbares Drittes, das kommentarlos und apodiktisch ist.

„Um 1900 laufen mehrere Blindheiten – des Schreibers, des Schreibens, der Schrift – zur Garantie einer elementaren Blindheit zusammen: des Blinden Flecks Schreibakt. Anstelle der Spiele zwischen zeichensetzenden Menschen und Schreibfläche, Philosophengriffel und Naturtafel tritt das Spiel zwischen der Type und ihrem Anderen, ganz abgelöst von Subjekten. Sein Name ist Eischreibung.“1

Einschreibung ist gemäß der robusten Semantik dieses Begriffs kein sanftes Schreibenmachen einer Stimme, sondern ganz im Gegenteil, die rohe Gewalt einer Einkerbung des Signifikanten, die vom Diskurs des Anderen direkt in den Körper des Schreibenden imprägniert wird. Die maschinell gestanzte Type versinnblidlicht den inkommensurablen Keil, den die Schreibmaschine ein für allemal zwischen Natur und Kultur getrieben hat. Weshalb die Sprache, zurückgeworfen auf ihr materielles Substrat, das bloße Symbol ihrerseits diesen gewaltsamen Akt der Einschreibung fordert, da sie sich keiner immaginativen Metaphern als kontinuierlichen und nahtlosen Kanal von Natur zu Kultur mehr bedienen darf, der ja durch die Schließung des Muttermundes bereits ausgedient hatte. In diese rohe Gewalt, die dem Körper Signifikanten einschreibt, wird sich Nietzsche denn auch urheberrechtlich selbst verwandeln. Eine, kraft seiner histrionischen Persönlichkeitströrung, bedingte Metamorphose in ein göttliches Wesen, Dionysos, der Nietzsche seit Anbeginn seines Schaffens als der Große Andere allzu Unmenschliche Vokabeln eingebrannt hatte. Die Apotheose des Philosophen bedeutet nur allzu konsequent dessen Negation als Subjekt und der eigenen Hand an der Schreibmaschine. Der Autor ist Despot geworden und favorisiert das Diktat vor allem Schreiben. Ein Diktat, dem sich niemand geringeres als „seine“ Frauen zu beugen haben. Und diese gebeugte Haltung nehmen sie nirgendwo besser als an der Schreibmaschine an. Der dionysischer Diktator Nietzsche hat, nicht zuletzt aufgrund körperlicher Defizite, den Platz der Musen eingenommen, den er aber ungleich despotischer besetzt und verwaltet. Von seiner Sekretärin und Geliebten Lou von Salomé bis zu seiner Dissertantin Helene Druskovitz, sie alle leihen ihrem Lehrer das Ohr, wenn er ihnen ihr Programm, das nicht zufällig Friedrich Nietzsche heißt, einschreibt.

Wem das alles wie ein Untergangszenario der Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft aussieht, dem täuscht hier sein Gefühl keineswegs. Das ist genau Kittlers Absicht, die sich gegen die doch sehr germanistische Art wendet, in einem Text alles herauszulesen, was einem beliebt. Mit der Implementierung der Technik in den Text, dem Mitschreiben der Hardware an der Software ist freilich der allzu diffusen und schwindliigen Exegese ein Ende gesetzt. Das Shakespearesche “as you like it” ist damit verstummt und für obsolet erklärt worden, das Genießen an der Literatur ist aber damit kein Ende gesetzt. Es bleibt nur ein paranoid-schizoides Genießen, gefiltert durch das jeweilige mediale Apriori der Epoche.
Zu hintergfragen ist jedoch Kittlers eigenes Aprori, seine eigens deklarierte Antihermeneutik und ob er dieser gerecht werden kann, ob er nicht selbst, den Geist, den er hat austreiben wollen, lediglich medial moduliert hat und neu eingetrieben hat? Wie sicher sind die von Kittler abgesteckten Zäsuren, die er sich bei Foucault abgeschaut und technisch überformt hat? Sind sie nicht mutatis mutandis selbst Konstrukte. Bleibt noch zu fragen ob es hinlänglich beglaubigt werden, dass das Modell der mediävistischen Genealogie, seinen Widerpart in der matrilinear Kodierten Konjugalfamilie erfährt und damit erst der Theorie Vorschub leistet… Das sind Fragen, die sich die Kittler Rezeption die nächsten Jahre und Jahrzehnte fragen wird. Was dabei herauskommt wird die Leistung des Meisters kaum schmälern, der war, ist und bleibt ein einzigartiger Philosoph und Germanist – eine ungewöhliche Kombination für ein Genie

——
1. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. München: Wilhelm Fink Verlag. S. 238

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1. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. München: Wilhelm Fink Verlag. 4. Auflage, 2003. S. 216.
2. ebenda, S. 216
3. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. München: Wilhelm Fink Verlag. S. 234

——
1. Vgl. Kittler, Friedrich: Typewriter. In: Grammophon, Film, Typewriter. Berlin: Brinkmann und Bose Verlag, 1986 S.275.
2. Kittler, Friedrich: Typewriter. In: Garmmophon, Film, Typewriter. S. 275
3. ebenda, S. 277
4. ebenda, S.277


Kommentare

Sehr schön. Endlich mal was über das Zentrum unserer Arbeit. Wenn man sich durchkämpft durch diesen dichtesten Dschungel der philologioschen Philosophie hat man das Erfolgserlebnis erfühlen zu können was uns der Verstorbene hätte sagen wollen. Und das rollt dann noch wortgewaltig dahin.

St.Max · 21.10.2011 09:02 · #

Ja, Wortgewalt ist bei Kittler glaub ich genau das richtige Qualitätsmerkmal. Und auch ein bisschen Inszenierung – Selbstinszenierung, die da stets mitschreibt.

Angeblich soll er ja “die Gelehrtentragödie” aus den AS 1800/1900, nach eigenen Angaben “bekifft” geschrieben gehaben ;)

Ana · 22.10.2011 13:18 · #

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