Ich heiße Peter Zwirer und bin Doktor der Paläontologie. Studiert habe ich an der Universität Regensburg, dem drittbesten paläontologischen Institut Europas, wo ich nach wie vor arbeite.
Paläontologie ist kein einfacher Broterwerb, wenn überhaupt einer. Es ist eine Wissenschaft ohne größere Anwendung außerhalb ihrer eigenen Forschung. Ohne wirtschaftlichen Nutzen scheint heutzutage ja sowieso jede Wissenschaft für sinnlos erklärt zu werden.
Aber für mich ist das absolut nicht so. Es gibt mir ein ganz besonderes Hochgefühl, wenn all die Zahlen und Mosaiksteine zusammenfallen und daraus das Bild eines ehemals lebenden, laufenden Wesens entsteht. Es ist nicht einfach nur ein Puzzle, das gelöst wird, sondern es entsteht ein ganz eigenartiges Gefühl von Nähe.
Ausgrabungen und Forschungsprojekte sind teuer und ohne wirtschaftlich verwertbaren Mehrwert ist Finanzierung erwartungsgemäß schwer zu bekommen. Sicher, Universität und naturhistorisches Museum leisten sich das ein oder andere Projekt, aber die Forschungsstellen sind so rar, dass sogar die relativ wenigen Paläontologiestudenten zuviele sind, um sich ernsthaft Chancen ausrechnen zu können. Aber ich hatte Glück.
Alles was ich erreicht habe, verdanke ich Professor Ertl. Er betreute meine Dissertation und jetzt meine Habilitation. Er stellte mich den wichtigsten Leuten bei Förderungen, Museen und Forschungsprojekten vor.
Er hat mir sogar meine derzeitige Stelle als wissenschaftlicher Assistent an der Universität verschafft. Zwar sind es nur 15 Wochenstunden und die Bezahlung erwartungsgemäß schlecht, aber es geht bei so einer Stelle auch nicht um Lebensunterhalt, sondern den “Fuß in der Tür”, wie Professor Ertl immer sagt. Natürlich ist mein wöchentliches Pensum weit mehr als 15 Stünden: Ich bereite Lehrveranstaltungen vor, korrigiere Tests und helfe Professor Ertl bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten.
Meinen Lebensunterhalt verdiene ich mir – so ironisch das als Naturwissenschaftler scheinen mag – mit allerlei Geisteswissenschaftler-Jobs: Taxifahrer, Kellner, sogar bei einem Bestattungsunternehmen habe ich gearbeitet. Davon lebe ich, oder komme zumindest über die Runden. Wieviel ich in der Woche arbeite, will ich gar nicht wissen. Aber ich sehe es als eine Art Vorschussarbeit an. Man muss sich eben rein- und hocharbeiten und dann kann man davon leben. Damit habe ich kein Problem. Im Gegenteil, ich bin für Leistungsgerechtigkeit, oder wie man das nennt.
Zumindest habe ich die letzten viereinhalb Jahre so gedacht. Ich bin jetzt fast 35 und habe mich karrieremäßig keinen Zentimeter bewegt. In diesem Alter beginnt man, sich wegen sowas Sorgen zu machen, falls man sich traut, aufrichtig darüber nachzudenken.
Mir ist klar, dass ich mich in einer totalen Abhängigkeit befinde. Ich bin nicht naiv. Aber das nehme ich in Kauf, denn es ist für alle so und der einzige Weg in eine wissenschaftliche Laufbahn. Aber in letzter Zeit mache ich mir darüber Sorgen. Ich frage mich, ob diese Abhängigkeit nicht mein Ende als Wissenschaftler sein wird. Nicht wegen meiner ohnehin nicht vorhandenen wissenschaftlichen Karriere, sondern weil mich dasjenige, weshalb ich all das Folgende auf mich nehme mich anzuekeln beginnt.
Es begann vor etwa 2 Jahren. Bei einem gemütlichen abendlichen Bier tauschten Professro Ertl und ich, wir pflegten längst auch privaten Umgang, Geschichten über’s Studentenleben aus. Dabei erwähnte der Professor, dass er es bedaure, noch nie Marijuana geraucht zu haben. Natürlich sah ich eine Chance, mich weiter anzufreunden und bot an, ihm etwas zu besorgen. So begannen wir, jede Woche einen Joint zusammen zu rauchen. Mit der Zeit besorgte ich ihm immer mehr. Sein Konsum stieg und er rauchte es bald gänzlich alleine.
Dann, vor etwa einem halben Jahr ging er von Marijuana auf Kokain über. Er sagte, es sei, weil das Marijuana ihn “langsam im Kopf” gemacht hätte und er etwas Aufputscherendes benötige. Es stimmt. Seine wissenschaftlichen Arbeiten und Aufsätze, die ich ja alle Korrektur las, waren zusehens schlechter geworden. Ihnen fehlte eine klare Stuktur und sie waren voller inhaltlicher Fehler. Das konnte er sich nicht länger leisten. Am Institut tuschelte man schon, er würde mit seinen 59 Jahren bereits senil. Ich willigte also ein, ihm über meine Kontakte als Kellner in einem Nachtklub etwas Kokain zu besorgen. Doch das verschlimmerte alles nur. Seine Arbeiten wurden unzusammenhängend, seine Gedankenhänge sprangen wild umher. Ich musste inzwischen einen Großteil seiner Aufsätze verfassen oder zumindest komplett umschreiben. Das tat ich nicht aus Pflichtgefühl oder Unterwürfigkeit, sondern weil er nach wie vor meine Eintrittskarte in eine wissenschaftliche Laufbahn ist. Fällt er, ist meine Chance dahin. Dann war’s das. Also spielte ich nolens volens mit.
Letzte Woche kam aber der Wendepunkt. Professor Ertl kam von einer Konferenz in Bratislava zurück und traf mich tags darauf. Er sah furchtbar aus. Seine glasigen, blutunterlaufenen Augen fixierten mich ununterbrochen. Er bat mich um einen Gefallen. Eine Kollegin würde nach Regensburg kommen und benötige einen Schlafplatz, da es beim Hotel ein Problem mit ihrer Buchung gegeben hatte. Nun fragte mich der Professor, ob ich sie auf meinem Gästebett beherbergen könnte. Er würde selbstredend dafür Miete bezahlen. Eine Lüge. Professor Ertl steckt schon seit geraumer Zeit in finanziellen Schwierigkeiten. Sein Drogenkonsum, von dem seine Familie natürlich nichts weiß, frisst sein ohnehin geringes Gehalt auf. Auch mir schuldet er Geld. Ich betrachtete es bisher als Investition in meine Wissenschaftskarriere. Doch jetzt? Diese angebliche Kollegin, dessen war ich mir sofort bewusst, ist nichts anderes als eine Geliebte, wenn nicht gar eine Prostituierte, die er bei mir unterbringen muss, damit seine Familie nichts davon erfährt. Geld für ein Hotel hatte er nicht.
Er wusste sofort, dass ich ihn durchschaut hatte, aber gleichzeitig hatte er niemanden sonst, den er um diesen heiklen Gefallen bitten konnte. Unsere Abhängigkeit ist längst eine gegenseitige geworden, das wurde mir an dem Tag bewusst. Wie soll ich meine wissenschaftliche Laufbahn auf ein Wrack wie Professor Ertl aufbauen? Was ist die Alternative? Alles hinschmeißen und 10 Jahre meines Lebens als verschwendet abtun?
Das alles ging mir vorgestern durch den Kopf. So aufrichtig bin ich sicherlich in meinem ganzen Leben nicht mit mir gewesen… und werde es auch nie wieder sein.
Ich tippe dieses E-Mail auf meinem Smartphone, während ich am Flughafen auf Flug 8072 aus Bratislava warte. Ich hole eine Frau, eine Kollegin, ab, die für ein paar Tage in Regensburg ist. Ich habe meine Wahl getroffen.
Dies ist mein Geheimnis, das ich dir bzw. euch schicke. Das ist keine Enthüllung, kein Geständnis. Egal, was ihr damit macht, wieviele Menschen dies lesen oder hören werden. Völlig gleichgültig ob alle, manche oder niemand es glauben wird.
Es bleibt mein Geheimnis, es wird dadurch nicht größer oder kleiner, nicht erhalten oder zerstört.
Diese ganze Enthüllung
bedeutet
rein
gar nichts.