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Der fröhliche Fundamentalismus der Gleichgültigkeit

von am 22.07.2010 10:39, Rubrik philosophisches-politisches

Die Religionskritik sollte sich seit der Aufklärung eigentlich erledigt haben. Offenbar ist dies nur unvollständig geschehen. Das Dilemma, das sich aus dieser Unabgeschlossenheit ergibt, ist, dass die Denunziation dessen, was Religion ausmacht, als Intoleranz aufgefasst wird. Religiöse Lehren stehen nach dem Selbstverständnis der Gläubigen über der Vernunft. Der Diskurs über Religion wird also bis heute von den Anhängern der thematisierten „Illusionen“ (Freud 1978: 94) mitgestaltet. Wen wundert es da, wenn auch manche PhilosophInnen diese Illusionen eher unkritisch bestehen lassen.


Andrea Roedig schreibt im Standard (20. Juli 2010) aus Anlass des Schleierverbots an syrischen Universitäten über das Verhältnis von Burka-Verbot und Kruzifix im Klassenzimmer. Sie stellt dabei einige wichtige Punkte zur Debatte, nur um dann selbst wieder den unbewältigten Illusionen auf den Leim zu gehen.
Richtig ist es das Burka-Verbot zu thematisieren. Als kritischer Mensch muss man gegenüber Verboten, die auf individuelle Entscheidungsmöglichkeiten einzelner Menschen zielen, schon aus professionellen Gründen misstrauisch sein. Es ist richtig, die Politisierung des Verhältnisses zwischen den Religionen in Europa für die unliberalen Entscheidungen europäischer Regierungen verantwortlich zu machen, aber geht es im 21. Jahrhundert wirklich um eine Frage der Toleranz gegenüber den totalitären Ansprüchen einer (nicht nur im Hinblick auf die unzähligen Missbrauchsfälle) mittelalterlich agierenden katholischen Kirche einerseits und einer aus der gesellschaftlichen Marginalisierung ihrer Mitglieder fundamentalistischen Profit schlagenden muslimischen Glaubensgemeinschaft andererseits?
Es kann doch einer nach-aufklärerischen Toleranz, die (notwendigerweise) mit einer materialistischen Religionskritik einher gehen muss, nicht darum gehen, die illusionären Symbole von Zwangskollektiven einander gegenüber zu stellen und sich daraus Erkenntnisse zum Charakter von Toleranz zu erhoffen. Es ist doch naiv im 21. Jahrhundert überhaupt so großes politisches Gewicht auf Denkrichtungen zu setzen, die an die Existenz übernatürlicher Wesen glauben und dafür öffentliche Aufmerksamkeit vor allem aber politische Mitbestimmung beanspruchen.
Der Unsinn des Gekreuzigten im Klassenzimmer wiegt doch den Unsinn der Ganzkörperverhüllung nicht auf. Beides sind Zeichen einer vergangenen Zeit, in der die Begriffe von Freiheit und Individualität noch wenig Bedeutung hatten. Das Problem ist aber nicht, dass der „Konkurrenz der islamischen zur christlichen Kultur“ aufgrund derer mit „zweierlei Maß gemessen“ würde, wie Roedig schreibt. Sondern die manifeste Tatsache von der Gewalt die diese Illusionen immer noch auf Menschen ausüben. Es geht nicht um einen „iconic turn“ und die daraus abgeleitete Gewissheit, dem „Westen“ erscheine „das Verhüllen“ „so unheimlich und unmenschlich“ wegen seiner „Kultur der Exhibition, die Freiheit mit Enthüllung gleichsetzt“. Es geht um ein grundlegendes Verständnis von Aufklärung und ernsthafter materialistischer Gewaltkritik. So wie das Kreuz (in allen seinen missbräuchlichen Verwandlungen vom Kruken- zum Hakenkreuz) eine Geschichte der Gewalt und Unvernunft offenbart, ist die völlige Verschleierung von Frauen ein Zeichen der Inbesitznahme und Unterwerfung der Verhüllten durch die Gemeinschaft, die diese Verhüllung einfordert. Auch die freiwillige Verhüllung ist eine Selbstrücknahme und auch bei völliger gesellschaftlicher Anerkennung ein soziales Hindernis. Uniformen schaffen sehr klare Distinktionsmerkmale und machen diejenigen, die sie nicht tragen, angreifbar.
Der Staat muss den Religionen gegenüber neutral sein und gleichzeitig die freie Religionsausübung schützen. Er muss aber in erster Linie die Freiheit der in ihm lebenden Individuen gegenüber den metaphysischen Zwangssystemen beschützen. Das Thematisieren der Symbole der Illusionen und dem öffentlichen Platz den sie einnehmen, kann die fundamentale Kritik der religiösen Zwangsverhältnisse nicht ersetzen und scheint im Rahmen eines wahrhaft aufgeklärten Dialogs eher naiv. Das Aufrechnen von Unrecht hilft hier nicht weiter. Die fröhliche Gleichgültigkeit dieser Argumentation widersetzt sich einer kritischen Konzeption. Wenn Roedig auf die Praxis der Amtskirche hinweist, die Frauen massiv bei der Berufswahl (etwa des Priesteramts) behindert und daraus ableitet, Kritik an „islamischer Misogynie“ sei daher nicht angebracht, dann ist das ein Versuch, kritische Positionen zu relativieren. In ihrer Semantik sind jetzt beide von ihrer Verantwortung gegenüber den Individuen enthoben. Roedig verwendet das Wort Dialektik zwar sogar in ihrem Text, aber auf die kritische Position, die seit Hegel und Marx, einen Widerspruch im Prozess ausdrückt schafft sie es nicht. Dieses „Auflösen von allem und jedem in Entgegengesetztheiten“ (Schmidt 1994: 14) sieht zwar wie Dialektik aus, ist aber im Grunde linguistischer Barock, der angesichts der Verlockungen des „zwanglosen Zwangs des besseren Arguments“ (Habermas) vorm gesellschaftlichen Zwang schon kapituliert hat. Wie gesagt, Religionskritik sollte sich mit der Aufklärung erledigt haben. Sie hat es nicht und so müssen wir weiterhin Illusionen kritisieren, bevor wir endlich ans ideologische Eingemachte gehen können: Volk und Nation.

Literatur:
Freud, Sigmund: Die Zukunft einer Illusion, Frankfurt 1978.
Schmidt, Burghart: Postmoderne – Strategien des Vergessens, Frankfurt 1994.


Kommentare

Artikel hier:

http://diestandard.at/1277338476024/Kommentar-der-Anderen-Das-Kreuz-mit-der-Burka

St.Max · 22.07.2010 11:18 · #

So man der “promovierten Philosophin” nicht Naivität unterstellen will, muss man ihr offenbar unlautere Absichten unterstellen.

Standardi · 22.07.2010 12:20 · #

so kann man das mit der religion auch halten —> http://www.youtube.com/watch?v=VbhY-KAHeX0

r. · 22.07.2010 13:46 · #

Die Burka-/Nikab-Verbotsdebatte ist ja längst kein europäisches Phänomen mehr. Vor Syrien hat ja schon Ägypten ein Nikab-Verbot an seinen Universitäten beschlossen.
Die Problematik bei einer Gleichsetzung der Debatten in Europa und im arabischen Raum ist, dass in Europa das Verhüllungsverbot im Grunde nicht als Säkularisierungsdebatte geführt wird, sondern als Integrations- und Kulturkampfdebatte. Das führt dann auch dazu, dass sich plötzlich Leute wie Strache das Mäntelchen des Feminismus umwerfen. Und als Reaktion darauf kommt dann das Missverständnis auf, man müsse Ganzkörperverhüllung als Recht auf Selbstbestimmung muslimischer Frauen respektieren. Dass die Ganzkörperverhüllung Ausdruck eines frauenfeindlichen und weltfremden Fundamentalismus ist, erst recht, wenn sich eine Frau (wie ja oft als Gegenargument angeführt wird) freiwillig verhüllt. In allen Ländern des arabischen Raums wird dies ebenso aufgefasst. Genau deshalb verbieten Syrien und Ägypten den Nikab (Burka ist dort weniger ein Problem). Der Nikab und sein Tragen wird dort als Einfluss des fundamentalistischen Wahabismus saudi-arabischer Provenienz angesehen. Und tatsächlich gehen bei Ägypterinnen westlicher Konsumismus mit erzkonservativen religiösen Ansichten Hand in Hand. Saudi-Arabien steht für Wohlstand, Luxus und eben religiösem Erzkonservativismus bis hin zu Fundamentalismus. Dass der Nikab als nicht im Koran enthalten und rückständig abgetan wird, von einer durch und durch männlichen Geistlichkeit, führt letztlich zur absurden Situation, dass Frauen sich durch die freiwillige Entmündigung emanzipieren wollen.

Man sieht, es ist eine Debatte, die bisweilen so absurd wie kompliziert ist.

Stephan mit ph · 22.07.2010 17:55 · #

Der Artikel dieser Philosophin ist ein weiteres Indiz für die geistige Plebejisierung unserer Zeit. Zeigt er doch deutlich, dass sich der wesentliche Konflikt nicht etwa zwischen christlicher und muslimischer Kultur, sondern zwischen antireligiösen Relativisten und der spirituell-religiösen Aristokratie gläubiger Menschen abspielt.

PV · 22.07.2010 22:52 · #

“Spirituell-religiöse Aristokratie gläubiger Menschen”? Das sind ja ganz schön schwere Geschütze. Wer oder was soll das denn bitte sein?

Stephan mit ph · 23.07.2010 01:57 · #

Das im obigen Artikel kritisierte “Auflösen von allem und jedem in Entgegengesetztheiten” scheint doch ein unbewusstes zeitliches Residuum in den Köpfen vieler Menschen zu sein, wie man am Kommentar PVs erkennen kann. ;)

St.Max · 23.07.2010 11:15 · #

:)

Ana · 23.07.2010 17:40 · #

@ St.Max

Kannst Du mir bitte erklären was Du damit meinst?

Aus Deinen Beiträgen glaube ich zu erkennen, dass Du Philosophie studierst und gerade die Frankfurter Schule durchgenommen wird? Freue mich schon, wenn Ihr zu den Poststrukturalisten und Co. kommt. Da wird dann hier wahrscheinlich ein rhetorisches Fass aufgemacht.

@ Stephan

Ja, schwere Geschütze. Formulierungen im Stile Johann Georg Hamanns finde ich persönlich aber unterhaltsamer, als die verbalen Nebelgranaten mit denen der Zeitgeist hantiert.

PV · 24.07.2010 13:13 · #

Naja ich beschreibe damit die leicht zu erkennende Tatsache, dass du deinen Kommentar zeitgeistig wie Fr. Roedig in inhaltslose Gegenüberstellungen aufgelöst hast. Das bedeutet du hast zwar etwas geschrieben, aber im Grunde nichts gesagt. Wie so oft.

Mehr steht da schon, poststrukturalistisch gesagt, zwischen den Zeilen deiner Kommentare. Das du einen Irrationalisten gegen “Nebelgranaten” des Zeitgeistes in Stellung bringst ist in mehrerer Hinsicht amüsant. Das dieser großen Einfluss auf die Romantik hatte braucht uns nicht erst Safranski auseinanderzusetzen. Und wie ich deine Philosophierezeption einschätze ist es kein Zufall das Ernst Jünger ein bekennender Hamann Fan war.

PS: Die Poststrukturalisten langweilen mich schon nicht einmal mehr. ;)

St.Max · 24.07.2010 15:33 · #

Übrigens schliesse ich mich dem ph-Kommentar an: Wer sind denn diese Aristokraten?

St.Max · 24.07.2010 15:35 · #

Dein Hang zum Jargon macht eine substantiiert Replik unmöglich. Deine Kritik ist vollkommen inhaltslos ;). Es ist nicht meine Schuld, dass heutzutage der universitäre Schwerpunkt auf Memorisierung und Reproduktion von “impostures intellectuelles” gelegt wird und die grundsätzlichen kognitiven Fähigkeiten auf der Strecke bleiben.

Weiters habe ich nicht “einen Irrationalisten gegen Nebelgranaten des Zeitgeistes in Stellung gebracht”, sondern die ästhetische Überlegenheit seines Stils (auf welchen ich in meinem ersten Kommentar augenzwinkernd rekurrierte) gegenüber den verbalen Nebelgranaten des Zeitgeistes
betont. Mit “verbalen Nebelgranaten” meinte ich ja gerade solche bemühte Formulierungen wie: „Auflösen von allem und jedem in Entgegengesetztheiten“.

Tatsächlich bin ich durch das (Privat)Studium des Werkes Ernst Jüngers auf Hamann gestoßen.

“Wer sind denn diese Aristokraten?”
Gläubige Menschen.

PV · 24.07.2010 17:10 · #

Halten wir es doch einfach mit den Worten al-Tantawi (möge er in Frieden ruhen!): “Das sind Traditionen und haben nichts mit Religion zu tun”.

faho · 24.07.2010 18:02 · #

Der Großscheich der Al-Azhar-Universität ist, wenn auch sehr liberal und eine positive Figur, doch ein Vertreter des Illusionismus und somit nicht die beste Quelle aus der man im Zusammenhang mit dem oben gesagten zitieren sollte. Auch wenn er, was ich persönlich hoffe und ihm wünsche, in Frieden ruht.

Nebenfrage: Wieso endet “möge er in Frieden ruhen” mit einem Rufzeichen? Ist das so üblich oder soll das etwas spezielles ausdrücken? Wie etwa eine besondere Verbindung von dir zu dem Geistlichen?

St.Max · 27.07.2010 10:42 · #

@PV: Na ja, momentan machen’s ja eher die Gläubigen unter sich aus. “Antireligiöse Relativisten” sind momentan wenig am verbalen Schädeleinschlagen um das Kopftuch beteiligt.

Mal davon abgesehen, dass du durch deine Formulierung den Konflikt zwischen Religiösen und “Antireligiösen” zu einem Klassenkampf machst. :D

Stephan mit ph · 27.07.2010 12:32 · #

@Stephan

Die Gegner des Islam bilden eine kuriose und sehr heterogene Phalanx:
Ordinäre-unreflektierte Rassisten, Progressisten, Vertreter anderer Glaubensrichtungen, viele Linke, Liberale usw. stehen da nebeneinander.
Aber nur die antireligiösen Relativisten konnten im Namen des politischen Universalismus durch die diversen Kopftuchverbote dem Islam wirklich Schaden zufügen. Besonders bedauerlich finde ich das für die Türkei, in welcher der Islam eine kulturelle Eigenheit darstellt, die auch ruhig sichtbar sein sollte. Aber auch in Europa ist es traurig zu sehen, wie identitätsstiftende religiöse Symbolik aus dem Alltag zurückgedrängt wird. Auf Transzendenz gerichtete Lebensmodelle finde ich ästhetisch ansprechender als die globalisierte Konsumgesellschaft amerikanischer Prägung, die wir mittlerweile um die Ohren gehauen bekommen.

PV · 27.07.2010 19:37 · #

Also mal ganz ehrlich. Ich halten icht viel von dem Gerede vom Christentum als Teil unserer europäischen Identität. Es ist Teil unserer Geschichte, aber nicht Teil unserer Identität. Unsere kulturelle Identität geht zurück auf die Aufklärung: Gleichheit, Freiheit, Mündigkeit. Wenn du Religion als Teil der Identität ansiehst, dann bist du wieder in dem ollen Kampf der Kulturen. No thank you.
Und dieses ewige Aufbieten von bipolaren Gegensatzpaaren langweilt auch. Ja ja, es gibt nur blinde Konsumsucht oder Frömmigkeit und überhaupt keine alternativen Lebensmodelle.

Im übrigen befindest du dich selbst auf äußerst heiklem antireligiös-relativistischen Terrain, wenn du Lebensmodelle danach beurteilst, wie “ästhetisch ansprechend” sie sind.
Du HEDONIST, NIHILIST, KOMMUNIST, du!!

Stephan mit ph · 27.07.2010 20:08 · #

@Stefan

Ich habe auch nicht vom Christentum gesprochen, sondern generell von identitätsstiftender religiöser Symbolik. Also auch von Kopftüchern in Europa, die mEn nicht verboten werden sollten. Aber natürlich ist es genau das Ursprungsland der “FREIHEIT, Gleichheit, Brüderlichkeit”, welches als erstes mit einem Verbot die Religionsfreiheit einschränkt. Ich gehe allgemein nicht soweit von einem strikten Dualismus zu sprechen. Allerdings ist es wohl ein Faktum, dass sich Identität zwingend als Negativdefinition (Konzept der Différance) über Gegensätze manifestiert.
Ich denke auch nicht, dass es nur blinde Konsumsucht oder Frömmigkeit gibt. Was etwa beispielsweise die Entwicklung Huysmans vom Ästhetizismus zur katholischen Mystizismus besonders schön veranschaulicht.

PV · 27.07.2010 21:09 · #

Also wie Joris Karl Huysmans die Dichotomien von Konsumsucht und Frömmigkeit außer Kraft setzt bzw. den Übergang von dem einen zum Andren ermöglicht, schafft, vorschlägt möchte ich gerne erklärt bekommen. Der französische Symbolismus scheint ja noch einiges aufzubieten, dass sich meiner Lektüre bisher offenbar erfolgreich verweigert hat.

Ana · 27.07.2010 21:36 · #

Also Frankreich hat, soweit ich weiß, nur die Burka verboten. Das ist keine Einschränkung der Religionsfreiheit, sondern das Verbot einer Tradition (die nicht religiös begründbar ist… sonst würden Burkas auch außerhalb Afghanistans Usus sein), die das Selbstbestimmungsrecht der Frau einschränkt.
Dass Identität nur über Negativdefinition funktioniert kann ich nicht unterschreiben.

Stephan mit ph · 27.07.2010 23:54 · #

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