Der Diskurs der islamischen Öffentlichkeit präzisierte sich vor und während der iranischen Revolution von 1979 verstärkt in Form einer ideologischen Sprache, deren Inhalt sich zwar mit der Diktion politischer Herrschaft deckte, dessen Form aber die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung suggerierte. Das Selbstbewusstsein der islamischen Revolution im Iran sah den Glauben als Kulminationspunkt der Ideologien, in dem diese schließlich aufgehen würden. Die Klasse als historisches Subjekt der Veränderung hatte damit ausgedient und die Menschheit selbst konnte sich als Kollektiv zum Subjekt ihrer eigenen Befreiung machen. Die Frage nach Freiheit oder Gerechtigkeit wandelte sich so, in einer Umkehrung emanzipativer Gesellschaftskritik in die Frage nach Staat oder Gesellschaft als Träger der Freiheit der Individuen.
Die als Kaisertum verschleierte Militärdiktatur des Schahs wurde so einer Kritik zugänglich gemacht, die den Sturz des Herrschers ermöglichte. Im Schah personifizierte die iranische Revolution das Böse ihrer Gesellschaft und sparte sich, nach dessen gelungenem Sturz, die Reform des Systems gleich mit. Das emanzipative Potential der religiösen Erneuerung tastete grundlegende Machtstrukturen erst gar nicht an. Der vorhandenen Militärdiktatur wurde nur der Mantel des islamischen Republikanismus übergestülpt und die Revolutionsgarden wurden als weitere Bande im Kampf um die Macht im Staat etabliert.
Die Entideologisierung der politischen Öffentlichkeit als islamische Öffentlichkeit hat dabei nie die Grundproblematik der Ideologie beseitigen können: das Kapitalverhältnis. Das Begreifen der Moderne als Gegenmodell zu einer imaginierten Verwestlichung, ohne eine wirkliche Universalisierung von Modernität außerhalb des automatischen Subjekts anstreben zu können, bedeutet die Etablierung eines Relativismus, der die Kultur (als Gefüge komplexer Einzelheiten) als einen reinen Gegenstand irrationaler Rackets1 bloßlegt und dabei ein esoterisches Kollektiv etabliert.
Die aktuellen Ereignisse in Iran machen die Debatte um diese Entwicklung zu einer existenziellen Angelegenheit für die Menschen, die unter den Bedingungen des esoterischen Kollektivs leben müssen. Der Sammelband von Stephan Grigat und Simone Dinah Hartmann versteht sich in diesem Sinne als „Einspruch gegen die Indifferenz“ (10) mit der die westliche Öffentlichkeit der Situation der iranischen Bevölkerung gegenübersteht.
Das Buch ist bereits 2008 erschienen und bespricht daher nicht die unmittelbar aktuelle Situation, kann aber über deren Hintergründe Auskunft geben.
Gerade wegen der oben geschilderten historischen Erfahrung bleibt Kritik an bestehenden Verhältnissen immer aktuell. Die Kritik darf dabei auch zum Mittel der Subjektivität greifen um das Leiden der Individuen am Kollektiv zum Ausdruck zu bringen. Die durch eine kulturrelativistische Perspektive forcierte Indifferenz und die sich ihr anschließende Irrationalität der kritischen Muster sind ein fragwürdiger Luxus, den sich kritische Theorie daher nicht erlauben kann. Die relativistische Tendenz postmodernen Partikularismus öffnet allerdings einem unreflektierte Glauben an die Wirksamkeit „universeller Zwangsneurosen“ (StvPowi 2006: 9f) wie der Religion, als sinnstiftendem Bezugssystem, eine Berechtigung als kritische Position. Emanzipation von Herrschaft soll so über die Fragen der kollektiven Imagination gelöst werden. Damit tendiert eine solche Kritik aber dazu die Wiederholung der Geschichte zu affirmieren. Nachdenklich stimmt, was Slavoj Žižek in einem aktuellen Kommentar zur momentanen Situation in Iran schreibt:
„And, last but not least, what this means is that there is a genuine liberating potential in Islam – to find a “good” Islam, one doesn’t have to go back to the 10th century, we have it right here, in front of our eyes. […] we are witnessing a great emancipatory event which doesn’t fit the frame of the struggle between pro-Western liberals and anti-Western fundamentalists. If our cynical pragmatism will make us lose the capacity to recognize this emancipatory dimension, then we in the West are effectively entering a post-democratic era, getting ready for our own Ahmadinejads.“ (Quelle: http://www.indybay.org/newsitems/2009/06/25/18603974.php)
Das Gute an der Revolution im Iran, soll also nicht die Befreiung von einer Militärdiktatur gewesen sein, sondern die Suche nach einem „guten Islam“? Diese Suche nach den Wurzeln der Freiheit in einem wahnhaft repressiven Kollektiv wird von Žižek als Sonderform der Emanzipation exkulpiert, um der Kritik am iranischen Regime über die konstruierte Unterstellung der Vereinfachung die Spitze zu nehmen.
Die angebliche Dichotomie (von pro-westlichen Liberalen und anti-westlichen Fundamentalisten) im Iran, die in die Stellungnahmen mancher Regimekritiker von Žižek hineininterpretiert wird, lässt aber weniger auf die Qualität der Kritik, zumal im Buch von Hartmann und Grigat, Rückschlüsse zu, als auf die Absicht des ideologischen Kulturrelativisten Žižek. Dabei steht er in starkem Rekurs auf den ursprünglichen Apologeten der religiösen Erneuerung im Iran: Michel Foucault. Der Meister der„Ent-individualisierung“ (Foucault 1978: 229f.) hat sich 1979 zu ähnlich fatalen Fehleinschätzungen betreffend der emanzipativen Qualitäten des politischen Islam hinreißen lassen.
Die „vermeintliche Dekonstruktion“ (239) eurozentrischer Ressentiments gegen ein persisches Regime bietet die Gelegenheit für ein Plädoyer im Namen der Anderen, derer man sich bedienen kann, um die Misere der eigenen unhinterfragten Existenz in eine erträgliche Perspektive zu transzendieren. Die Opfer, deren Zahl während der Proteste gegen das Regime täglich steigt, bleiben dadurch unerwähnt. Sie wachsen nur Quantitativ und geben kein vollständiges Bild der Gewalt des esoterischen Zwangskollektivs ab, das Frauen, Homosexuelle, religiöse Minderheiten mit großer Grausamkeit verfolgt. Das „Sich-Hingeben an den lebendigen Gehalt“ (Horkheimer 1977: 127) bildet für den Irrationalismus, dem die relativistische Argumentation folgt, die einzige Erkenntnismöglichkeit. Die Erweckung des Unbewussten im Menschen durch die Bindung der Individuen über das esoterische Kollektiv an die Zwangsgewalt göttlicher Willkür stellt eine äußerste Konsequenz, eine Verschärfung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft dar. Die kritische Beurteilung wird durch diese Aneignung, die sich nur in Kontigenzräumen willkürlicher Erkenntnis bewegen kann, als sinnlos eingestuft. Das aus der Unvernunft des Ganzen entstehende Leiden der Individuen wird damit zur Notwendigkeit einer „Verneinung des Individuums zugunsten der nur vorgestellten Gemeinschaft“ (ebda: 143) und spricht dem ganzen unmittelbaren Sinn zu, insofern es die Anlagen der Einzelnen nur ausreichend unterdrückt. Der Verlust der Individualität, der so, zynisch verordnet und als Heilsversprechen für eine zukünftig freie Gesellschaft wahnhaft fantasiert wird, untergräbt die Redlichkeit von Gesellschaftskritik mit dem Argument der Partikularität. Die Politik der Europäischen Union scheint diesen Gedanken dennoch einiges abgewinnen zu können wie sich in den Aussagen von Vertretern der EU im aktuellen „Standard“ zeigt: „EU-Vertreter nehmen an Vereidigung Ahmadi-Nejads teil“ (Der Standard 5.8.2009, 3). Die „Presse“ zeigt dann die Realität einer Politik der Indifferenz deren Ergebnisse bestenfalls als zwiespältig einzustufen sind. Die westlichen Demokratien erkennen die Wahl Ahmadinejads zwar an, gratulieren ihm aber nicht (Die Presse 6.8.2009, 6). Die Mittel der Diplomatie werden im Sinne eines postmodernen Zynismus bis zum äußersten beansprucht und bleiben dabei immer handzahm bis zur Selbstverleugnung.
Der Sammelband von Grigat/Hartmann hat sich zur Aufgabe gemacht diesem Fatalismus etwas entgegenzustellen und exerziert das, von der Einleitung von Leon de Winter und Henryk M. Broder bis zu den vielfältigen Analysen, auch vieler iranischer Intellektueller und Wissenschafter, konsequent durch.
Die Position die die Kritik hier einnimmt ist eine, aktuell, umstrittene, die nicht versucht zwischen den Interessen der iranischen Diktatur und der iranischen Bevölkerung zu vermitteln. Hier wird vielmehr kompromisslos für das Individuum und gegen das Kollektiv Partei ergriffen womit die Grundaussage des Bandes als Kritik am Bestehenden wirksam wird. Mit der instrumentellen Objektivität wissenschaftlicher Praxis hat dieses Buch nichts gemein. Es biedert sich aber auch nicht den polemischen Formen oberflächlicher Kritik an, sondern bleibt konsequentes Statement.
Literatur
Foucault, Michel: Dispositive der Macht, Berlin 1978.
Horkheimer, Max: Zum Rationalismusstreit in der gegenwärtigen Philosophie, in: Schmidt, Alfred [Hg.]: Max Horkheimer. Kritische Theorie. Eine Dokumentation. 2 Bände, Frankfurt 1977, 118-175.
Scheit, Gerhard: Die Religion als ‚universelle Zwangsneurose’. Vergeistigung im Judentum – Regression in Christentum und Islam, in: StvPowi [Hg.]: Religionskritik, Wien 2006, 9-17.
1 Siehe: Horkheimer, Max: Die Rackets und der Geist, in ders: Gesammelte Schriften Band 12, Frankfurt 1985, 287-291.