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Vom Wanken der Utopie

von am 23.04.2012 08:49, Rubrik Rezensionen-Kritik

Rezension: Greven, Michael Th.: Systemopposition. Kontingenz, Ideologie und Utopie im politischen Denken der 1960er Jahre, Barbara Budrich, Opladen 2011.

Michael Greven beschreibt in seinem Buch das Phänomen der Systemopposition in den 1960er Jahren im Rahmen der Begriffe Kontingenz, Ideologie und Utopie. Alle drei sind selbst historische Kategorien einer Bewegung die, durch seine Beschreibung zeitgeschichtlich eingeordnet und damit protokollarisch wiedergegeben wird.


Kontingenz bedeutet den Zwang zum ständigen Aufbruch. In der Sprache der historischen Revolution ist mit Aufbruch meist der Auszug, also der Exodus aus einer politischen Epoche gemeint. Der Mensch soll sich vom Zwang der geschichtlichen Verhältnisse befreien, die seine gesellschaftliche Existenz auf unangemessene Weise organisieren. Sie müssen sich von dem, was ist, emanzipieren. Aufschlussreich ist dabei Marx’ Formulierung der Verknüpfung von theoretischer und politischer Notwendigkeit dieser Emanzipation, wonach die Theorie fähig ist, die Massen zu ergreifen, wenn sie fähig ist, sich zu radikalisieren. Diese Aussage beinhaltet auch die Warnung vor einem falschen Verständnis und der damit verbundenen schlechten Anwendung des Revolutionsbegriffs in der Praxis. Die Revolution braucht eine materielle Basis. Doch während die Menschen des übrigen Europas geschichtlich gereift scheinen zur Fähigkeit, die Revolution im Sinne der geschichtlichen Entwicklung zur Anwendung zu bringen, erscheint Deutschland in Marx Beschreibung dazu noch nicht bereit. „Selbst die Stufen, die es theoretisch überwunden, hat es praktisch noch nicht erreicht.“ (MEW1: 386) Grevens Buch scheint Indiz dafür, dass dieser 150 Jahre zurückliegende Rückstand bis in die 1960er Jahre noch nicht aufgearbeitet war. Man könnte fragen ob es seither gelungen ist.
Der Fehler, die als Imagination erlebte Vorgeschichte in der Wirklichkeit nicht eingeholt zu haben, stellt die größte Gefahr für den Revolutionsbegriff dar. In dieser Form wird der Auszug aus dem Käfig historischer Bannkräfte unmöglich. Es mag an der prinzipiellen Verstrickung von Mythos und historischer Beharrung liegen, aber einer der aufmerksamen Beobachter dieses Phänomens entdeckt in eben dieser Konstellation eine damit verbundene Verschiebung des Problems historischer Kontingenz zu politischer Konsequenz, mithin zu einem Problem der Utopie. Michael Walzer beschreibt den Exodus als Schritt der Befreiung mit theologischem Anspruch. Der den Gedanken der Befreiung begleitende politische Radikalismus stellt sich so als säkularisierte Form messianischen Eifers dar, als die Umsetzung messianischer Phantasie in weltliche Tätigkeit. (Walzer: 152) Nicht umsonst erscheint das Subjekt der Veränderung bei Marx trotz allem Materialismus als „die Vollmacht Gottes, die das Heil verbürgt“ (Wellmer: 65).
Dabei verträgt sich die christliche Dogmatik augenscheinlich sehr gut mit bestimmten Aspekten einer materialistischen politischen Theorie. Boris Groys weist darauf hin. Der dialektische Materialismus muss das Leben in Paradoxa auffassen weil er einerseits davon ausgeht, dass das Leben im Inneren widersprüchlich ist, andererseits den immanenten Anspruch hat das Leben in seiner Gesamtheit zu regieren. (Groys: 40f.) Das Ganze zu denken macht somit nur Sinn, wenn man auch alles beherrschen will. Der Trieb zur Macht, diese revolutionäre Lokomotive, steckt die Intentionen der Revolutionäre an. Herrschaft wird unausweichlich.
Der ideologische Charakter des Marxismus liegt, folgt man Raymond Boudon in seiner Überzeugungskraft. An seinen strengen wissenschaftlichen Paradigmen und Modellen und dem damit einhergehenden Versuch diesen Modellen Bedeutung jenseits ihrer Gültigkeit Reichweite zu verleihen. Man hat anders gesagt im Marxismus eine wissenschaftliche Ideologie die im Rahmen des Zeitgeschmacks Einfluss ausgeübt hat und diesen Einfluss über die Zeit gedehnt hat. (Boudon: 230) Anders gesagt Wissen, dass sich institutionell verfestigt hat den Hang in Ideologie umzuschlagen. Der sozialistischen Revolution hat, was die Wirksamkeit ihrer politischen Theorie betrifft, nichts mehr geschadet als die Verwirklichung ihrer Herrschaft, die Institutionalisierung ihres Wissens.

Michael Greven thematisiert die Spannung dieser Problemkonstellation am konkreten Beispiel. Historisiert und kontextualisiert die Mythen der revolutionären Bewegung, vor allem aber will er die Mythen über sie in ein Verhältnis zu ihrer historischen Dimensionierung bringen.
Systemopposition ist für Greven ein politisches Projekt, welches eine bewusste praktische und theoretische Haltung verlangt. Die Gesamtheit gesellschaftlicher Formationen muss betrachtet werden, das System muss nicht nur seine politischen Routinen verändern, es muss grundsätzlich anders werden. „Die Revolution setzt einen anderen Blick voraus.“ (9)
Mit der Erkenntnis über die Perspektivität revolutionärer Gesellschaftsmodelle geht die Hypothese einher, diese würden im Maße ihrer Historisierung kontingent. Sie verlieren ihre Selbstverständlichkeit und lösen über ihre Geschichtlichkeit ihre politischen Grundlagen auf. Ob Greven also versucht, dieser Kontingenz zu opponieren oder nicht, wird im Text nie ganz klar. Jedenfalls entkommen für Greven weder Glaube noch Weltanschauung der Kontingenz. Die zum revolutionären Politikverständnis praktisch notwendige Systemopposition dreht unter diesen Prämissen am jeweiligen Stand historischer Kontingenzverhältnisse ihren Zugangswinkel. War er während der französischen Revolution noch gegen die bürgerliche Gesellschaft und die aus ihr gemodelte Nation gerichtet, so wäre er heute gegen den Kapitalismus. Nicht mehr eine Klasse sondern marktwirtschaftliche Verwertung wird als Gegner der historischen Entfaltung von Aufklärung wahrgenommen.

Wichtig dabei für Greven: ein durch Massenproteste herbeigeführter Regimewechsel ist etwas anderes als das historische Revolutionsverständnis, bei dem der unauflösliche und konstitutive Zusammenhang von sozioökonomischer, kultureller und politischer Gestalt im Zentrum stand. (Totalität) Die Französische Revolution löste nämlich nicht nur den absolutistischen Staat ab, sondern etablierte dabei dessen Gegenbild die bürgerliche Gesellschaft. Die von Greven analysierte Begrifflichkeit der Systemopposition der 68er Bewegung operiert durchwegs mit diesem Revolutionsverständnis und nicht mit dem des Regimewechsels. Mit dieser Definition gibt sich Greven einen Rahmen für die Form der Darstellung. Eine politikwissenschaftliche Auseinandersetzung, die das politische Bewusstsein der Systemopposition rekonstruieren und deuten will, muss vor also allem „die nachträgliche Verwischung der damals bestehenden Unterschiede im politischen Bewusstsein herausarbeiten, die zwischen jenem […] Teil der allgemein als eine ‚Bewegung’ verstandenen Proteste der sechziger Jahre und allen anderen bestanden“ (15).
Um zu vermeiden, einem hypostasierten Kollektivsubjekt hinterherzudenken, soll darin ein Bewusstsein für den von den wichtigen Proponenten (etwa Johannes Agnoli) betonten Bruch zwischen Systemopposition und verfassungstreuer Protestbewegung erzeugt werden. Bei der sichtbar wird wie viel Raum bei aller Rhetorik zwischen Rudi Dutschke (Systemopposition) und Jürgen Habermas (Reformismus) zu finden ist. Auch die APO (Antiparlamentarische Opposition) war in sich sehr differenziert.
Greven bezeichnet sie als einen „durch verschiedene Akteure vorangetriebenen, prozessförmigen Kommunikationsraum und nicht als einen einheitlichen kollektiven Akteur“ (23) Wobei die Differenz durchaus nicht immer eindeutig war. Seitenwechsel waren an der Tagesordnung. (Etwa durch Hans Magnus Enzensberger.)

Damit wird sichtbar, in welche Richtung sich diese Darstellung bewegt. Greven sieht einen vereinheitlichenden Topos 1968 am Werk, der als „geschichtspolitische Verzerrung“ (35) einseitige öffentliche Aufmerksamkeit genießt. Wahrscheinlich in Hinblick auf die Vereinfachungen Götz Alys hin gemünzt stellt er fest, dass im Vergleich zum harten Kern der APO die 68er im Grunde aus einer unspektakulären systemimmanent operierenden Mehrheit von Aktivisten bestand. Greven betont eher die „Aufspaltungen und Ausdifferenzierungen des Mobilisierungsniveaus“ (37) als deren flächendeckende Wirkung.

Geeint hat den harten Kern der APO der Antiparlamentarismus. (Wie man nicht zuletzt an Johannes Agnolis Beiträgen zum Thema durchaus sichtbar machen kann.) Dass sich die Größen der Bewegung dabei durchaus vage mit dem Thema der Revolution befasst haben, meint Greven an Herbert Marcuses widersprüchlichen Äußerungen belegen zu können. (77) Das Abhandenkommen des Subjekts der Geschichte widerlegt da für Marcuse in sehr eklektischer Interpretation von Freud und Revolution nicht den Marxismus. (78)

Rudi Dutschke wird als politischer Anthropologe eingeordnet und dann als heimlicher Romantiker enttarnt, was der revolutionären Stimmung aber keinen Abbruch tut, denn die deutschen Romantiker, denen einige der verwendeten Formulierungen zu entstammen scheinen, sind als Quelle „nicht direkt nachzuweisen“ (133). Nur Dutschkes unbedingter Glaube an die natürliche Güte des Menschen, die durch die gesellschaftlichen Verhältnisse von Entfremdung und Verdinglichung verdeckt sei, scheint Ausweis romantischer Gesinnung genug zu sein. Nur in engem Bezug auf Marx’ Kritik deutscher Verhältnisse wirkt diese leise vorgetragene Kritik doch etwas erschütternder.

Greven jedenfalls liest einen Unterschied zwischen legitimer Demokratiekritik, die den normativen Gehalt des modernen politischen Systems angesichts unvollkommener institutioneller Formen transzendieren will und illegitimer (aus Sicht des Systems) die gegen Demokratie an sich auftritt aus diesen Debatten heraus. (180) Interessant wird das bei der Betrachtung der westdeutschen Demokratie auf dem Weg in den Neofaschismus. Mit dem Schlagwort der Restauration konnte so manche Debatte gewonnen werden. (207) Damit war die Gleichbedeutung der kritisierten Position mit dem Argument über die Fortexistenz privatkapitalistischer Marktwirtschaft und deren Gegenüberstellung mit dem Sozialismus, oder eine noch allgemeinere Kontinuitätsthese gemeint. (208) Erstere betonte die sozioökonomischen Strukturvoraussetzungen für den Faschismus, zweitere personelle und ideologische Kontinuität im politischen System. Im neomarxistischen Kontext war potentiell jede kapitalistische Gesellschaft vom Umschlag in den Faschismus bedroht. Dies allerdings im Rahmen eines allgemeinen Faschismusbegriffs und nicht in direktem Bezug auf den NS. Was im Rahmen deutscher Befindlichkeiten wie Marx sie analysiert, tief blicken lässt.
In der damaligen Kritik findet dabei laut Greven eine Verschmelzung statt:
„Freuds ‚Todestrieb’, Adornos ‚total verwaltete’ Welt, Marcuses ‚eindimensionale Gesellschaft’, Brückners ‚totale Konditionierung zum Konsum’ – hier kommt alles eklektizistisch zusammen, um suggestiv den Faschismus in neuer Gestalt zu berufen, der wesentlich auf Verinnerlichung des äußere Zwangs beruht.“ (214)
Dabei verfehlt die Grundlage dieser Kritik gewissermaßen die zentrale Wirkung: nicht politische Herrschaft verhindert hier die Revolution, sondern das Privateigentum an den Produktionsmitteln. (221)
Auf die Frage, ob Systemopposition heute noch möglich ist, antwortet Greven dementsprechend verhalten. Da die Revolution von einer „relativ autonomen Machtzentrale“ (273) lebt, die es zu stürzen und deren Funktionen es zu übernehmen gilt, hat sie Startschwierigkeiten in unserer neuen Gesellschaft. Menschen als politische Subjekte stehen kaum zur Verfügung wie es scheint. Der Kapitalismus hat sich in die evolutionär günstige Position gebracht, unabdingbar, ohne Alternative zu erscheinen. Der Traum der Revolution durch menschliche Praxis Änderung herbeizuführen „ist geschichtlich ausgeträumt“ (282).
Dies ist für Greven objektiver Tatbestand, der aber nicht bedeutet, dass „subjektives Revolutionsbewusstsein und revolutionäres Handeln in Gegenwart und Zukunft nicht mehr vorkommen“ (282).

Es kommen Autoren zu Wort, die sonst mittlerweile wenig gehört werden. So gewährt Greven in dieser Übersicht interessante Einblicke in eine untergegangenen Kultur marxistischer Kritik. Leider aber doch in starker Konzentration auf das theoretisch längst Bekannte. Man hätte Schwerpunkte auf Sonnemann statt Habermas, Krahl statt Dutschke, Agnoli statt Abendroth setzen können. Agnoli taucht überhaupt nur im Kontext der APO auf und erscheint in seiner Reduktion auf die Kritik des Parlamentarismus. So könnte man sagen der historische Überblick hat den Begriff der Systemopposition im angekündigten Rahmen gut erfasst und abgegrenzt aber dabei keine spannende oder tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Thema erbracht.

Der Hinweis von Hannah Arendt, dass in den Revolutionen der Vergangenheit eine neuzeitliche „Hoffnung auf eine Stabilisierung der irdischen Verhältnisse“ (Arendt: 295) zur Sprache kommt, scheint mir ein Hinweis auf die Änderung in dem revolutionären Gedanken zugrunde liegenden Freiheitskonzept zu sein.
Während die klassische Utopie bei Morus auf ein rigides Verständnis politischer Struktur zielt und die Individuen durch Zwang zu organisieren trachtet, will die Marxsche Revolution auf die Totalbefreiung (Sartori: 440) hinaus. Man ist versucht zu sagen: Die Moral von der Geschicht, die gibt es nicht. Man könnte sich aber doch fragen, ob es im Sprachgebrauch der Revolution nicht doch Anweisungen gibt, die man auch wenn man sie richtig versteht bloß falsch machen kann. Wenn bereits Robbespierre ausruft: „Hat es das Joch der Feudalaristokratie gebrochen, um unter das Joch der Aristokratie der Reichen zurückzufallen?“ (Robbespierre: 121) Hat dann nicht auch eine Bewegung ein Problem die ihr politisches Denken scheinbar ausschließlich am Gedanken des politischen Exodus als revolutionärem Akt schult und mithin an der Falsifikation der Gerüchte die sie darüber in die Welt setzt zugrunde gegangen ist? Vielleicht findet man darüber etwas heraus wenn man sich ihre aktuellen Ableger im Rahmen der kapitalismuskritischen Protestbewegungen genauer ansieht.

Literatur
Arendt, Hannah: Über die Revolution, München 2011.
Boudon, Raymond: Ideologie. Geschichte und Kritik eines Begriffs, Rowohlt, Hamburg 1988.
Groys, Boris: Das kommunistische Postskriptum, Suhrkamp, Frankfurt 2006.
Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Suhrkamp, Frankfurt 1990.
Robbespierre: Über die Mark des Silbers, in Fischer, Peter [Hg.]: Reden der Französischen Revolution, dtv, München 1974, 112-129.
Sartori, Giovanni: Demokratietheorie, Darmstadt 1997.
Walzer, Michael: Exodus und Revolution, Fischer, Frankfurt 1995.
Wellmer, Albrecht: Kritische Gesellschaftstheorie und Positivismus, Suhrkamp, Frankfurt 1969.


Kommentare

Als Autor freut man sich über jeden Leser – auch als Kritiker. Kritik besteht auch aus Meinungen und Urteilen – und die sind zu respektieren. Allerdings Tatsachenbehauptungen müssen überprüfbar sein, wie z.B. die des werten Herrn Rezensenten, “Ulrich Sonnemann kommt dann leider nur aus der Sekundärliteratur zu Wort”. Diese Behauptung ist nicht nur falsch, sondern ehrenrührig, wie sich jeder Leser meines Buches über die “Systemopposition” der sechziger Jahre auf den Seiten 71, 73, 74, 75, 93, 94 und 111 selbst überzeugen könnte, wo Sonnemann aus vier verschiedenen seiner Schriften zitiert und kommentiert wird.
Sollte der ansonsten kluge Rezensent also nur selektiv gelesen haben? Ähnliches gilt für seine Feststellung, es werde im Kapitel über Öffentlichkeit/Privatheit “eine Auseinandersetzung mit feministischer Opposition nur anmoderiert” – während er das eigene (!) Kapitel über die angesichts meines Untersuchungszeitraumes (nur bis 1968) “verspätete Politisierung der Frauenemanzipation” wohl gar nicht mehr zur Kenntnis genommen hat.
Kluge eigene Gedanken ersetzen in einer wissenschaftlichen Rezension nicht die sorgfältige Lektüre und faire Rekonstruktion des Rezensierten!

Michael Th. Greven · 20.05.2012 17:43 · #

Der notwendigen Richtigstellung folgt die Entschuldigung des Rezensenten. Die Fehler sind bereits behoben.
mfg
Stefan Marx

St.Max · 20.05.2012 17:45 · #

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