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Wenn der Zug in Richtung Demokratie abgefahren ist...

von am 19.02.2011 22:14, Rubrik interviews

aerosol.cc sprach mit dem Politikwissenschafter Hannes Wimmer über den Machtwechsel in Ägypten und den Demokratisierungsprozess in der arabischen Welt. Das Gespräch führte aerosol.cc Autor Stefan Marx.

Dieses Interview ist Start einer neuen Reihe von Gesprächen mit Personen aus Politik, Wissenschaft, Universität und Kultur zu tagesaktuellen Themen.


Ägypten ist nach seiner Verfassung eine Präsidialrepublik. Der Präsident wird aber nicht gewählt, sondern durch eine Volkswahl bestätigt. Außerdem ist er gleichzeitig Oberbefehlshaber der Armee. Welches politische System verbirgt sich hinter dieser Konstruktion?
Hannes Wimmer: Ein autoritäres System, welches es vor allem darauf anlegt, die Partizipationsforderungen der BürgerInnen repressiv zu behandeln, also ein System, welches das Partizipationsniveau möglichst niedrig zu halten sucht – aus welchen Gründen auch immer.

Erleben wir eine Revolution in Ägypten? Bzw. Ist ein Umschwung hin zu einem demokratischen politischen System mittels einer solchen Revolution wahrscheinlich?
Hannes Wimmer: Ja. Revolution. Das „autoritäre System“ ist unhaltbar geworden. Die Verfassung muss relativ schnell geändert werden, Wahlen müssen durchgeführt, politische Parteien zugelassen, Opposition zugelassen usw. Dies vor allem deswegen, weil die neuen Informations- und Kommunikationsmedien die früher übliche Einschränkungen der medialen Journalistik/Öffentlichkeit (Zensur) aushebeln, diese Medien laufen unsteuerbar auf dezentralisierter Ebene, das ist unumkehrbar (wird sich im Iran noch zeigen).

Welche Rolle spielt der Arabische Sozialismus (gerade in Bezug auf Ägypten, Stichwort Nasserismus)? Ist er noch ein politischer Faktor bzw. welche genuin säkularen politischen Bewegungen/Organisationen könnten Einfluss auf diesen Prozess nehmen?
Hannes Wimmer: Der arabische Sozialismus war weithin eine Fiktion, wie auch der Panarabismus. Der Hintergrund war der Kalte Krieg: Nasser hätte gerne die Amerikaner gehabt, die ihm den Staudamm bauen, die USA haben nicht begriffen, dass Nasser eine Alternative hat, die UdSSR.

Mohammed ElBaradei warnt im Spiegelinterview vor der Gefahr des Bürgerkriegs. Der Aufstand zeigt, dass viele Menschen in diesem Land nicht von einem diktatorischen Regime regiert werden wollen. Wie groß ist aber die Gefahr, dass diese „Revolution“ ihre Kinder frisst?
Hannes Wimmer: Nicht sehr groß, weil die Armee nicht wirklich delegitimiert ist: Bürgerkrieg droht vor allem dann, wenn das Gewaltmonopol zusammenbricht, und vor allem wenn die „bewaffnete“ Macht auseinanderbricht. In Ägypten ist diese Gefahr nicht zusehen.

Vizepräsident Omar Suleiman verhandelt momentan mit Vertretern der etablierten Parteien, nicht aber mit den Muslimbrüdern oder ElBaradeis Opposition. Die Armee hat vorübergehend die Macht übernommen. Welche Gefahren entstehen aus diesen Konstellationen für den Demokratisierungsprozess?
Hannes Wimmer: Wenn der Zug in Richtung Demokratie abgefahren ist, müssen die Muslimbrüder einbezogen werden, für sie gilt das demokratische Recht auf Opposition.

Droht die Gefahr eines Szenarios wie im Libanon?
Hannes Wimmer: Aus den oben genannten Gründen: nein!

Welche Rolle spielen religiöse Organisationen wie die Muslimbrüder für den Prozess? Deren stellvertretender Führer Raschad al Bajumi dem Spiegel gegenüber die „Revolution“ nicht als islamische „Revolution“ bezeichnen will. Er sieht darin einen Volksaufstand aller Ägypter. Gleichzeitig merkt er aber an: „Wir sind ein unverzichtbarerer Teil des Volkes.“
Hannes Wimmer: Die Muslimbrüder sind nicht mehr dieselben, welche Assad ermordet haben. Überhaupt hat Gilles Kepel wahrscheinlich recht, wenn er meint, der Höhepunkt des islamistischen Fundamentalismus sei vorbei, Ernüchterung schreitet voran – gesellschaftstheoretisch: Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft wird anerkannt, somit auch die Ausdifferenzierung der Religion als Funktionssystem, Religion gibt es hier und NUR hier, alle anderen Bereiche der Gesellschaft sind frei von religiösen Rücksichten.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Meinungsfreiheit? Die Moscheen waren über die Jahrzehnte Ort des politischen Austauschs der in anderen gesellschaftlichen Bereichen vom Regime strengt sanktioniert wurde.
Hannes Wimmer: Die Moscheen sind nicht mehr der Ort, wo man relativ sicher bzw. unkontrolliert von staatlichen Überwachungsorganen kritisch kommunizieren konnte – Kritik in religiösem Gewande war hier erlaubt. Auch diese Beschränkung ist gefallen.

Alexandria, die zweitgrößte Stadt Ägyptens, verlor während der Demonstrationen tagelang die Kontrolle über ihr Gewaltmonopol. Die Folgen waren Anarchie und Plünderungen. Sind sie ein Nebeneffekt der Bewegung, oder stehen sie im Zusammenhang mit einem latenten Staatsversagen? (Stichwort: rechtsstaatliche Bändigung des Gewaltmonopols) Steht das den anderen Nordafrikanischen Ländern noch bevor?
Hannes Wimmer: In Ägypten gab es ein Problem mit dem Gewaltmonopol. Dies betraf jedoch hauptsächlich die Polizei, weil sie ziemlich korrupt geworden war und weil sie vor allem als ein repressiver Arm des Regimes gesehen wurde (was sie auch war), nicht als ein Staatsorgan, welches für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger sorgt.

Der koptische Anwalt Naguib Gobraiel stellt in der Presse dem von Vizepräsident Omar Suleiman eingesetzten Komitee zur Verfassungsreform kein gutes Zeugnis aus. Nur eines von zehn Mitgliedern sei Christ und die restliche Besetzung von konservativen dominiert. Für ihn ist der Artikel 2 der Verfassung ein zentrales Problem auf dem Weg zur Demokratisierung, denn in ihm wird die Scharia als wichtigste Quelle des Rechts in Ägypten festgeschrieben. Was ergibt sich aus dieser Konstellation für die Modernisierung des politischen Systems, wenn man davon ausgeht, dass, wie du in deinem Buch „Gewalt und das Gewaltmonopol des Staates“ schreibst der moderne Staat sich allen Zumutungen religiösen Inhalts entzieht?
Hannes Wimmer: Wie gesagt, ein „islamischer Staat“ mit der Scharia als eine Art Grundgesetz wäre nur in einem nichtdemokratischen autoritären System möglich. Dieser Anspruch der „Islamisierung“ war einer, welcher sich genau gegen die fortschreitende funktionale Differenzierung richtete – in Ländern, wo dieser evolutionäre Prozess noch nicht abgeschlossen bzw. nicht sehr weit vorangekommen war oder ist, wie im Jemen. Im Jemen ist aber moderne Staatlichkeit ohnehin nicht vorhanden. Anders im Iran: Hier haben wir eine regelrechte Theokratie, die aber immer stärker als illegitim erlebt wird und der „Anarchie des Netzes“ nicht mehr lange standhalten wird.

Welche unmittelbaren außenpolitischen Konsequenzen ergeben sich aus der neuen Situation? Sind Tunesien und Ägypten vergleichbar? Wie könnte dieses Phänomen sich auf die arabische Welt auswirken?
Hannes Wimmer: Das ist nicht leicht zu beantworten, dafür braucht es Spezialisten für die Region. Grundsätzlich denke ich schon, dass Tunesien und Ägypten eine Vorbildwirkung haben werden.

Hannes Wimmer lehrt am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien sowohl Staats- als auch Gesellschaftstheorie und befasst sich in seinen aktuellen Werken mit der Modernisierung politischer Systeme sowie mit dem Gewaltmonopol des Staates. Weiterführende Literatur, Links und Texte zum Thema finden sich auf seiner Hompepage

Außerdem: Zwei Fragen zu Wimmers Forschung exklusiv auf der facebook-Fanseite von aerosol.cc — verlinken, mitdiskutieren und facebook-Freunde auf aerosol.cc aufmerksam machen ;)


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