So etwas Unheimliches durften österreichische Fernsehzuschauer vor kurzem miterleben. Es geht natürlich um den Auftritt Michael Jeannées bei “Die große Chance”.
Der Inhalt des betreffenden Show-Schnipsels dürfte inzwischen weithin bekannt sein. Zwei Groß-Egos prallen aufeinander: Deutsch-Infantilrapper Sido und Krone-Grindkolumnist Michael Jeannée. Der sich dann entfaltende Paviankampf belustigt, ist aber wohl nicht das, was man als unheimlich bezeichnen würde. Das Unheimlich spielt sich im Umfeld ab.
Das Show-Konzept ist uns vertraut: Menschen dürfen ihr Talent präsentieren und anschließend wieder abtreten. Die Guten ins Töpfen, die Schlechten ins Kröpfchen. Wiederhole. Es ist geradezu schmerzhaft vertraut, weil es seit 10 Jahren die TV-Landschaft dominiert. Das Konzept funktioniert, weil es dem sonst passiv berieselten Zuschauer Macht gibt. Diejenige Macht, die in der heutigen Konsum- und Medienlandschaft wichtiger und größer ist als die über Leben und Tod: die Macht über die sprichwörtlichen 15 Minuten Ruhm, dem modernen Medienäquivalent des Lebens nach dem Tod.
Blutrünstig warten die Zuschauer im Publikum und am Schirm darauf, dass sich Kandidaten lächerlich machen, um sie dann gnadenlos aburteilen zu können. Die Lust am Urteil ist es, was dieser Art von Shows so erfolgreich macht.
Doch dann passiert etwas: Ein alter Herr kommt auf die Bühne und stellt sich vor. Es sind zwar zwei alte Herren, aber der zweite ist nicht wichtig und ist eher das Schoßhündchen des Ersteren. Sobald dieser gewisse Herr Jeannée die Bühne betritt und sich vorstellt, verändert sich etwas. Im Publikum und bei den Juroren und selbst bei den Zuschauern zu Hause. Rücken straffen sich, Schultern verkrampfen und die vorher beinahe in ihren Stühlen liegenden Juroren sitzen aufrecht.
Etwas hat sich verändert und nur einer im Saal merkt es nicht:
Sido.
Das verwundert nicht, denn er erkennt das Tabu nicht.
Freud verknüpft das Konzept des Unheimlichen auch mit dem Tabu. Das Un-heimliche hat seinen Ursprung im Heimlichen; also dem, das gleichermaßen versteckt wie vertraut ist. Im soziokulturellen Kontext ist dies das Tabu: ein Verbot, das nicht ausgesprochen wird aber präsent ist. Das bloße Ansprechen ist schon eine Verletzung des Tabus. Das Tabu umgibt, so Freud, nicht nur eine Aura der Ehrfurcht, sondern auch des Schreckens. Es ist der Schrecken davor, dass das Heimliche enthüllt wird. Das Unheimliche ist also dasjenige, das verborgen sein sollte, aber ans Licht gelangt.
Was ist das Tabu in der Fernsehshow? Dass über gewisse Dinge nicht geurteilt wird, nicht geurteilt werden darf. Es geht dabei weniger um die Person Michael Jeannée sondern eher um das, was er verkörpert: Das laut polternde Urteil aus dem Bauch heraus, das Ver- und Aburteilen. Gerade das, was die Lust des Publikums an dieser Art der Show ausmacht, wird entblößt. Nicht die Bewertung der Qualität sondern die Machtposition des Urteilenden sind Inhalt und Zweck der Sendung. Jeannée erfüllt mit seiner Kolumne dieselbe Aufgabe: Er legt für seine Leser fest, worauf sie verächtlich mit dem Finger zeigen können und sollen.
Doch dieses Verhältnis von Beurteilten und Urteilendem durchbricht Jeannée indem er vorgibt, sich dem Urteil auszusetzen (seine Arroganz beweist selbstverständlich das Gegenteil). Seine Rolle als Urteilenden nicht kennend, behandelt Sido ihn als zu Beurteilenden; ein Fehler.
Der Sinn darin, das Publikum in die Rolle des Urteilenden zu versetzen besteht darin, dass der Urteilende dem Urteil enthoben ist. Man urteilt oder wird beurteilt, die Position des einen schließt die andere aus. Ein Urteilender wird niemals als Beurteilter gesehen. Das Publikum ist ratlos und weiß nicht, wie es reagieren soll.
Als Sido Jeannée mit einer blöden Bemerkung wegen seines Schlüsselbundes (“Du siehst aus wie ein Hausmeister”) begrüßt, ist es still im Saal. Jeannées nicht minder dämliche Retourkutsche, quasi: “du bist ja selbst ein Hausmeister”, wird mit tosendem Gelächter und Beifall bedacht. Das Publikum ist klar auf Seiten Jeannées, als dieser Sido für den Tabubruch bestraft.
Und die Bestrafung folgt dem Freud’schen Prinzip. Die Strafe für eine Bruch des Tabus ist die Kastration. Für Leute wie Sido oder Jeannée, die ihre Männlichkeit durchgehend mit verbaler Pöbelei verbinden und demonstrieren, kommt der Umstand, dass ein anderer das letzte Wort hat, einer Kastration wohl am nächsten.
Doch mit Sidos Verstoß gegen das Tabu ist der Bann gebrochen und die Positionen sind geklärt: Jeannée wird nun doch abgeurteilt, Sido gefeiert. Roncalli-Direktor Bernhard Paul versucht durch erstaunlich offene Devotheit, die Verhältnisse noch einmal umzudrehen und spricht Jeannées übliche Position an. Doch das ist nur ein weiterer Tabubruch und wird dementsprechend abgestraft.
Die Zwickmühle, in die Jeannée die Juroren bringt (die brünette Jurorin sieht man bisweilen mit ihrem Kopf in ihren Händen vergraben), ist diejenige, dass sie wählen müssen, ob sie die Urteilenden-Beurteilten-Relation innerhalb der Sendung oder im vermeintlichen “Wiener Kontext” aufrechterhalten wollen. Paul und die brünette Jurorin entscheiden sich für den Wien-Kontext und werden vom Publikum bestraft; von dem im Saal, dem zu Hause und dem eigentlich nicht beteiligten Publikum in der medialen Nachbearbeitung.
Das Unheimliche am Ganzen kommt aus der Vertrautheit mit der Situation des Urteilens bei gleichzeitiger Fremdheit der Rollenverteilung. Jeannée passt nicht in die Rolle des Beurteilten und daran zerbricht fast der Schein, dass es um die Leistung des Beurteilten und nicht um die Position des Urteilenden für das Publikum geht. Dieses Unheimliche ist gerade Paul ins (leider) sonnenbebrillte Gesicht geschrieben. Seine Reaktion ist die, dass er sich vom Urteil zurückzieht und dem Selbsturteil Jeannées sekundiert. Es muss ihn sehr geschreckt haben.