Sprache und Erkennen
Wer hat sich nicht schon einmal über Sätze wie “das Nichts nichtet” oder “die Welt weltet” amüsiert. Tatsächlich taugt Heidegger durchaus nicht schlecht für den ein oder anderen Schmäh. Das beiseite muss festgestellt werden, dass Heidegger Auseinandersetzung mit und Gebrauch der Sprache in hohem Maße differenziert und präzise ist. “Das Nichts nichtet”, weil „das Nichts“ nicht ist. Nur Seiendes kann sein. Sein meint bei Heidegger nicht eine Existenz als etwas Vorhandenes, sondern ein Vollziehen. Sein ist nicht der abgeschlossene essentialistische Kern eines Gegenstandes, sondern ein kontinuierlich sich vollziehender Prozess, der uns die Bedeutung des Gegenstandes erschließt.
Es geht bei Heidegger nicht darum, ein essentialistischen Wesenskern eines Gegenstandes zu finden, sondern darum, sich mit unserem Bezug zu diesem Gegenstand und seiner Bedeutung für uns auseinanderzusetzen.
Der öfters geäußerte Vorwurf, Heidegger würde eine Art kruden Essentialismus vertreten, ist gänzlich unhaltbar. Heidegger verlangt seinen Lesern viel Disziplin ab, da er seine Begriffe explizit bildet, um sich aus der Philosophietradition zu emanzipieren und so Missverständnissen vorzubeugen. Für seine Begriffe bedient er sich anfangs stark bei Neologismen, geht aber immer mehr zu einer Umdeutung von Begriffen aus der Alltagssprache über.
Warum das Ganze?
Im Prinzip emuliert er den Sprachgebrauch der antiken griechischen Philosophen, die ebenfalls Begriffe aus der Alltagssprache für ihr philosophisches Denken verwendeten. Auch die Neologismen wie etwa „In-der-Welt-sein“ sind nach dem Muster griechischer Begriffsbildung konstruiert. Heidegger will aus der Tradition heraustreten, weil diese bestimmte Begriff quasi mit Bedeutungen überladen hat, und man bei der Verwendung dieser quasi ständig die Tradition mit sich mitträgt. Heidegger will aber gerade die Tradition überwinden, da er einige zentrale Konzepte eben dieser Tradition hinterfragen will.
Eines der zentralen Konzepte der philosophischen Tradition, das Heidegger und die Phänomenologie hinterfragen ist etwa “die heute noch übliche Ansetzung von Erkennen als einer ‘Beziehung zwischen Subjekt und Objekt’. Die so viel ‘Wahrheit’ als Leerheit in sich birgt.” (Sein und Zeit, S. 60) Heidegger und die Phänomenologie verwehren sich gegen die Vorstellung, dass Erkennen darin besteht, dass ein abgeschlossenes, abgegrenztes Subjekt ein abgeschlossenes, abgerenztes Objekt erkennt.
Der zentrale Punkt der Phänomenologie ist, dass Bedeutung nicht das Produkt einer abstrakten Analyse ist, sondern dass man immer schon unmittelbar in Bedeutung ist. Das Dasein (d.h. der Mensch) ist nicht abgetrennt von der Welt (d.h. einem Bedeutungsganzen, aus dem heraus wir uns Seiendes erschließen) und erschließt sie sich durch Erkennen nach und nach, sondern es ist immer schon in der Welt. Die Relation ist vor den Relata. Soll das heißen, wir haben etwas immer schon erkannt? Nein. Aber wir haben etwas immer schon als etwas erkannt. Diese „als“-Struktur ist eine apriorische Bezugsstruktur, die immer schon in einem Bezugsganzen oder Kontextrahmen eingebettet ist. Es gibt im Erkennen nie den Punkt der Tabula rasa, an dem man absolut naiv, objektiv und ohne Vorverständnis an einen fixen, abgeschlossenen und abgegrenzten Gegenstand herangeht. Man ist immer schon in Bedeutung und wie sich dieser Bezugsrahmen bzw. Bedeutungskontext fortwährend und immerzu ändert, so macht dies auch dasjenige, das wir erkennen.
Das ist allerdings kein Relativismus sondern es geht vielmehr darum, sein Erkennen kontinuierlich zu hinterfragen und konsequent offen zu sein. Husserl hat hier sehr starke Anleihen von den antiken Skeptikern etwa im Begriff der ἐποχή, den er übernimmt. Allerdings ist die ἐποχή bei Husserl nicht wie bei den Skeptikern als „Zurückhaltung“ oder „Aufhebung des Urteils“ der Endpunkt sondern, im Gegenteil, der Anfangspunkt der philosophischen Auseinandersetzung. Die kritische Auseinandersetzung mit sich selbst, den eigenen Vorstellungen, dem eigenen Erkennen und dem Erkannten ist der Imperativ, der von der Phänomenologie an uns ergeht.
Warum dieser Exkurs? Zum einen, um noch einmal klar zu machen, worum es der Phänomenologie und Heidegger im Allgemeinen geht. Zum anderen, um im Folgenden die besondere Stellung des Todes bei Heidegger erklären zu können.
Heidegger und der Tod
Woher dieser starke Fokus auf den Tod in Heideggers „Sein und Zeit“? Nun wir haben gesehen, dass wir laut Heidegger immer schon in Bedeutung sind, das heißt etwas immer schon als etwas wahrnehmen und dass das Erkennen uns verändert. Und dann kommt der Tod.
Was genau meint Heidegger eigentlich, wenn er von „Tod“ spricht? Er widmet Paragraph 49 von „Sein und Zeit“ einzig der Abgrenzung der existenzialen Analyse des Todes von anderen Interpretationen des Todes. Er betont vor allem, dass Tod hier nicht biologischer Tod ist.
Das Enden von Lebendem nannten wir Verenden. Sofern auch das Dasein seinen physiologischen, lebensmäßigen Tod “hat”, jedoch nicht ontisch isoliert, sondern mitbestimmt durch seine ursprüngliche Seinsart, das Dasein aber auch enden kann, ohne daß es eigentlich stirbt, andererseits qua Dasein nicht einfach verendet, bezeichnen wir dieses Zwischenphänomen als Ableben. Sterben aber gelte als Titel für die Seinsweise, in der das Dasein zu seinem Tode ist. Darnach ist zu sagen: Dasein verendet nie. Ableben kann das Dasein aber nur solange, als es stirbt. („Sein und Zeit“, S. 247)
Es geht nicht um den Tod als Ende des Lebens, sondern um den Tod als Ende des Daseins, also des Seins des Menschen. Gemäß des Wortgebrauchs Heideggers kann eine Pflanze beispielsweise nicht sterben, weil sie sich nicht zu ihrem Tod verhalten kann. Dasein kann umgekehrt nicht einfach verenden, weil dem physiologischen Tod immer eine Auseinandersetzung mit dem Tod vorausgeht. Auch hier nicht eine Auseinandersetzung mit dem physiologischen Tod, sondern mit dem Tod als Ende des Daseins. Was genau ist nun am Tod so besonders oder wichtig für das Dasein?
Der Tod ist kein noch nicht Vorhandenes […], sondern eher ein Bevorstand.
[…]
Mit dem Tod steht sich das Dasein selbst in seinem eigensten Seinkönnen bevor. In dieser Möglichkeit geht es dem Dasein um sein In-der-Welt-sein schlechthin. Sein Tod ist die Möglichkeit des Nicht-mehr-dasein-könnens. („Sein und Zeit“, S. 250)
Der Tod ist hier nicht definiert als Ende des Daseins im Sinne des Endes eines Zeitraumes oder Zeitabschnitts. Er ist kein innerzeitliches Ereignis. Er ist das Ende des Sein-könnens. Es geht um das Ende der Möglichkeiten. Um das Ausmaß dieses Phänomens (oder eigentlich Un-Phänomens) für Heidegger zu begreifen, müssen wir uns anschaun, was „Sein“ für Heidegger in Bezug auf das Dasein bedeutet.
Dasein, d.h. das Sein des Menschen, bedeutet für Heidegger: das Wählen, Ergreifen und Wahrnehmen von Möglichkeiten; sich auseinandersetzen mit sich selbst, seinen eigenen Möglichkeiten und der Welt; sich verhalten zu seinen Möglichkeiten, der Welt, sich selbst.
Heidegger zitiert Nietzsche, wenn er schreibt, das Sein des Daseins ist „zu werden, was es ist.“ Dieses Vollziehen seiner Möglichkeiten hat auch starke Bezüge zu Aristoteles Vorstellung von Leben als Verwirklichung der φύσις.
Ein zentraler Punkt ist, dass es eben keinen essentialistischen Wesenskern oder eine ursprüngliche Wahrheit gibt, der „das Wesen des Menschen“ ist und verwirklicht werden soll, sondern das Prozesshafte, Werdende dieses Vollziehens das Wichtige ist.
Was bedeutet der Tod nun für das Dasein?
Der Tod ist ein Ereignis, das mich zwingt, mich zu ihm zu verhalten bzw. mich mit ihm auseinanderzusetzen, weil er das Ende meines Sein-könnens bedeutet. Mit meinem Tod kann nur ich mich auseinandersetzen, weil mein Tod je schon meiner und nur meiner ist. Nur ich kann meinen Tod „erfahren“ und niemand kann mir meinen Tod abnehmen. Genauso wenig kann ich den Tod, nämlich meinen Tod, am Sterben eines Anderen erfahren. Nur mein Tod ist wirklich Tod für mich. Mein Tod vereinzelt mich, wirft mich auf mich selbst zurück und zwingt mich, mich mit mir selbst und mit meinem Tod auseinanderzusetzen und mich zu mir und zu meinem Tod zu verhalten.
Nochmals: Tod ist hier nie physiologischer Tod, sondern Tod als Ende meiner Möglichkeiten und meines Sein-könnens. Der Tod ist meine Endlichkeit.
Warum bezeichnet Heidegger nun aber den Tod als „Möglichkeit“?
Weil in diesem Sich-verhalten-müssen für ihn überhaupt erst das Sich-verhalten-können ermöglicht.
Eine Möglichkeit, die ergriffen oder nicht ergriffen werden kann, ist immer etwas Zeitliches. Ich muss mich zu einer Möglichkeit verhalten – egal wie ich mich verhalte, ob ich sie ergreife oder verstreichen lasse –, weil sie sich mir in der Zeit eröffnet. Lasse ich ein Zeitfenster verstreichen, ohne mich zur Möglichkeit zu verhalten, so verhalte ich mich bereits zur Möglichkeit, indem ich dieses Zeitfenster verstreichen lasse. Dadurch, dass eine Möglichkeit als etwas (Inner-)Zeitliches auftritt, kann ich mich nicht „nicht zu ihr verhalten.“
Dadurch, dass ich mich entscheiden muss, kann ich mich aber gleichzeitig auch überhaupt erst entscheiden. Könnte ich eine Entscheidung immer wieder absolut rückgängig machen und mich in derselben Sache neu entscheiden, so wäre eine solche Entscheidung keine wirkliche Entscheidung.
Hier kommt der Tod ins Spiel:
Der Tod als meine Endlichkeit schlechthin macht mich zeitlich (Heidegger verwendet die Formulierung: „Der Tod zeitigt mich“), d.h. ich kann entscheiden, weil ich entscheiden muss. Weil ich mich zu ihm verhalten muss, ermöglicht mir der Tod überhaupt erst, mich zu etwas verhalten zu können. In „Sein und Zeit“ ist deshalb der Tod die Ermöglichung der Möglichkeit(en).
Es sollte jetzt klar sein, wieso Heidegger in „Sein und Zeit“ sagt: „Dasein ist Sein zum Tode.“
Das hat nichts damit zu tun, dass der „Sinn des Lebens“ darin besteht, einen wie auch immer mit Bedeutung aufgeladenen Tod zu sterben. Und schon gar nicht bedeutet es, das Ziel eines Menschen sei der „Heldentod für’s Vaterland“ oder dass die Angst vor dem Todes durch das Aufgehen in einem Kollektivsubjekt überwunden sei. Ganz im Gegenteil. Heidegger schreibt immer noch in Paragraph 49 von „Sein und Zeit“:
Die Geworfenheit in den Tod enthüllt sich ihm ursprünglicher und eindringlicher in der Befindlichkeit der Angst. Die Angst vor dem Tod ist Angst „vor“ dem eigensten, unbezüglichen und unüberholbaren Seinkönnen. Das Wovor dieser Angst ist das In-der-Welt-sein selbst. Das Worum dieser Angst ist das Sein-können des Daseins schlechthin. Mit einer Furcht vor dem Ableben darf die Angst vor dem Tode nicht zusammengeworfen werden. („Sein und Zeit“, S. 251)
Furcht bedarf etwas konkretes Seiendes, das die Furcht auslöst. Die Angst vor dem Tod ist die Angst vor dem Nicht-mehr-sein-können, d.h. sich nicht mehr entscheiden zu können. Dadurch wird eine jede Entscheidung endgültig, d.h. unumkehrbar. Diese Angst, sich nicht mehr entscheiden zu können ist für Heidegger im Grunde die Angst, sich entscheiden zu müssen.
Soweit zur abstrakten Ebene. In einer gesellschaftspolitischen Interpretation würde das bedeuten: Jeder muss Stellung beziehen und sich auseinander setzen. Dies kann nicht übertragen, beiseite geschoben oder verweigert werden.
Der geschätze Kollege Marx schrieb, dass bei Heidegger der Tod alle gleich mache und erst im Tod selbst sich der Mensch individualisieren könne. Dem muss ich hier vehement widersprechen. Die Endlichkeit individualisiert das Dasein immer schon, nicht erst im Moment des Todes. Heidegger spricht von der Jemeinigkeit des Todes.
D.h. meine Endlichkeit und meine Auseinandersetzung mit meinem Verhalten, meiner Notwendigkeit, mich zu entscheiden, Stellung zu beziehen, Möglichkeiten wahrzunehmen sind immer schon je meine, also meine eigene und nur meine. Nur ich kann mich mit mir, meinen Möglichkeiten und meiner Welt auseinandersetzen. Und ich kann mich dieser Verantwortung nicht entziehen.
Ich würde daher sagen, dass gerade im Gegenteil das Dasein bzw. der Mensch bei Heidegger (gemäß „Sein und Zeit“) durch den Anspruch und die Verantwortung, sich mit sich und der Welt auseinanderzusetzen, individualisiert ist. Der Umstand, dass Heidegger gerade in diesem Zusammenhang Begriffe wie „Verantwortung“, „Anspruch“ oder „Gewissen“ verwendet, würde ich durchaus dahingehend interpretieren, dass er sich der moralischen Implikationen dieser Ausführungen, auch im gesellschaftspolitischen Sinne, durchaus bewusst war.
Im Folgenden wird dies meiner Meinung nach noch klarer.
Die Diktatur des Man
Dasein ist immer schon Mitsein, schreibt Heidegger in „Sein und Zeit“. Die Anderen sind immer schon in unserer Welt mit da und das nicht als „Objekte“ eines subjektiven Selbst, sondern als Dasein wie wir.
Indem wir uns zu ihnen verhalten und auf sie beziehen, fühlen wir uns zugehörig. Heidegger schreibt: „Das Wer [dieses Miteinander] ist nicht dieser und nicht jener, nicht man selbst und nicht einige und nicht die Summe Aller. Das „Wer“ ist das Neutrum, das Man.“ (Sein und Zeit, S. 126)
In dieser Allgemeinheit und Alltäglichkeit verschwindet die Unterschiedlichkeit.
Dies ist noch nichts Schlechtes. Tatsächlich, so Heidegger, versteht sich Dasein zunächst immer von den Anderen her, d.h. es erfährt sich selbst durch die Art seines Verhältnisses zu den Anderen.
Er fährt fort:
In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom „großen Haufen“ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden empörend, was man empörend findet. („Sein und Zeit“, S. 126f)
Dies scheint auf den ersten Blick recht trivial zu sein. Öffentliche Meinung und so, aber es geht dabei um etwas viel Wichtigeres. Das unreflektierte Anpassen an das Man ist der erste Schritt hin zu einer Aufgabe jeglicher Reflexion:
[Die Öffentlichkeit] regelt zunächst alle Welt- und Daseinsauslegung und behält in allem Recht. Und das nicht auf Grund eines ausgezeichneten und primären Seinsverhältnisses zu den „Dingen“, nicht weil sie über eine ausdrücklich zugeeignete Durchsichtigkeit des Daseins verfügt, sondern auf Grund des Nichteingehens „auf die Sachen“, weil sie unempfindlich ist gegen alle Unterschiede des Niveaus und der Echtheit. Die Öffentlichkeit verdunkelt alles und gibt das so Verdeckte als das Bekannte und jedem Zugängliche aus. („Sein und Zeit“, S. 127)
Wer alle Welt- und Daseinsauslegung an das Man delegiert, der befindet sich in dem Bereich, der für Heidegger Uneigentlichkeit ist. D.h. das Dasein verfehlt es, über Reflexion und Auseinandersetzung mit sich und der Welt sich zu verwirklichen. Nicht der soziale Lebenszusammenhang oder gesellschaftliches Leben ist Uneigentlichkeit, was Habermas Heidegger vorwirft, sondern das Delegieren der Reflexion über sich und die Welt sowie des Verfügens über die eigenen Möglichkeiten an die Öffentlichkeit, d.h. die Allgemeinheit.
Uneigentlich ist es, vorgefertigte Auslegungen einer wie auch immer gearteten Allgemeinheit der eigenen, selbstständigen Reflexion vorzuziehen. Also genau dieses Aufgehen in einem Kollektivsubjekt, das Heidegger vom Kollegen Marx vorgeworfen wird, ist dasjenige, das Heidegger als uneigentlich anprangert.
Auch die Art und Weise, wie dies zustande kommt ist äußerst interessant: Die Auslegungen des Man gehen, indem sie abgeschlossene Asulegungen präsentieren, nicht „auf die Sachen“ ein. Das, von dem sie vorgeben, es bekannt und zugänglich zu machen, verdecken sie im Grunde. Die fertigen Auslegungen präsentieren sich als Endergebnis einer Reflexion, die weiteres Reflektieren überflüssig machen. Aber für die Phänomenologie liegt das, um das es bei einer Reflexion geht, ja nicht in einem Endresultat sondern im Reflektieren selbst. Indem die Auslegungen des Man sich als Endprodukt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Dasein und der Welt präsentieren, entbehren sie gerade dieser kritischen Auseinandersetzung.
Ich würde sagen, dies trifft sich ziemlich gut mit der Kritik am Jargon, der ja genau das macht: das verdecken, von dem er vorgibt, es zugänglich zu machen. Heidegger würde sagen, Jargon ist Ausdruck der Uneigentlichkeit.
Wohin dies im äußersten Fall führt – gerade in gesellschaftspolitischer Hinsicht – zeigt er auch auf:
Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davongeschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß „man“ sich ständig auf es beruft. Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das Man „war“ es immer und doch kann gesagt werden, „keiner“ ist es gewesen. („Sein und Zeit“, S. 127)
Ich glaube, Heidegger nimmt hier im Grunde schon Arendts Konzept der Banalität des Bösen vorweg.
Heidegger und der Nationalsozialismus
Ich glaube, mit meiner Ausführung oben aufgezeigt zu haben, dass der Vorwurf, bei Heidegger würde das Individuum durch das Sein zum Tode im Kollektivsubjekt aufgehen, nicht zutreffend ist. Meiner Ansicht nach ist dies gerade nicht der Fall, da dieses unkritische Aufgehen im Kollektivsubjekt gerade das ist, was Heidegger als Uneigentlichkeit bezeichnet. Ich finde, Heideggers Philosophie in „Sein und Zeit“ ist geprägt von einem sehr starken individualisierenden Moment.
Wie Holger Zaborowski in seinem Artikel über die Heidegger-Rezeption in Deutschland zwischen ’33 und ’45 im 5. Heidegger-Jahrbuch aufzeigt, wurde eben dieses Moment in der nationalsozialistischen Rezeption großteils kritisiert. Insbesondere nach seinem Rücktritt ’34 gab es einige Stimmen, die Heideggers Philosophie als im Grunde unvereinbar mit dem Nationalsozialismus ansahen. Zum Teil aus eher obskuren Gründen. Zum Teil aber auch weil seine Auseinandersetzung mit dem Man als bürgerlicher Individualismus angesehen wurde, in dem das Volk als Masse negativ konnotiert sei.
Dass Heidegger gegen Ende von „Sein und Zeit“ seine eigenen Vorstellungen vom Volk darlegt, wurde dabei in der Regel übergangen. Heidegger schlägt dort durchaus martialische Töne an vom Volk als Schicksalsgemeinschaft, dessen Geschick seine Macht in „der Mitteilung und im Kampf“ freisetzt. Überhaupt ist das Politische bei Heidegger bis in die erste Hälfte der 30er stark geprägt von Kampf und Macht. Auch sein Konzept von Geschichtlichkeit geht stark in diese Richtung.
Der Vorwurf, dass Heidegger sich unpolitisch gebe, ist falsch. Das Politische ist bei Heidegger sehr wohl Thema, gerade in seiner Frühphase sehr stark. Erst nach ’45 versucht er, vom Politischen Abstand zu nehmen, auch im Zuge seiner Kehre.
Was ist das Volk nun bei Heidegger?
Im Grunde versucht Heidegger sein Konzept des Volkes parallel zu seiner Daseinsanalyse aufzuziehen. Das Volk ist ein Miteinandersein des Daseins mit den Anderen (im Gegensatz zum bloßen Mitsein). Wo das Dasein geprägt ist von der Frage „Was bin ich?“ geprägt ist und diese Frage nur als einzelnes reflektieren kann, ist das Volk geprägt von der Frage „Was sind wir?“ und kann diese gleichsam nur miteinander reflektieren. Dasselbe gilt für das Verfügen und Reflektieren der eigenen Möglichkeiten und der Selbstverwirklichung. Was dem Dasein die Zeitlichkeit ist, ist dem Volk die Geschichtlichkeit.
Hier mag nun der Punkt gekommen sein, an dem der geschätzte Kollege Marx triumphierend ausruft: „Ha! Da haben wir ja das Kollektivsubjekt!“ Darauf würde ich sagen: Das mag jetzt so scheinen, aber es ist nicht in dem Sinne so, wie das der Kollege Marx meint, glaube ich.
Ja, das Volk ist ein – wenn man so will – kollektives Sein. Allerdings geht es nicht darum, dass das Volk das Dasein, also den Einzelnen, in sich aufnimmt und in sich aufgehen lässt, beide „Seinsweisen“ sind, wie ich das verstehe, parallel zu sehen. Jeder ist sowohl einzelnes Dasein als auch zur gleichen Zeit Volk. Keines soll im jeweils anderen aufgehen; im Gegenteil.
An dieser Stelle müssen einige Dinge klar angesprochen werden:
Heidegger hat in der Zeit der Anbiederung an den Nationalsozialismus vor allem den Volks- und Geschichtlichkeitsaspekt seiner Philosophie hervorgehoben und ausgeführt. Diese war schließlich am ehesten mit dem Nationalsozialismus kompatibel und Heidegger bemühte sich, dies auch so zu präsentieren. Seine Begeisterung für den Nationalsozialismus war zweifellos da und er versuchte, die Gunst der Bewegung zu erlangen und ein Teil davon zu werden. Sein Rektorat war nicht nur Teil sondern Ziel des Engagements. Er wollte an der Erneuerung des deutschen Volkes mitwirken und das Hochschulsystem dementsprechend neu aufbauen.
Heidegger war außerdem der Demokratie und dem Parlamentarismus gegenüber kritisch eingestellt. Sein Verständnis des Politischen orientierte sich anfangs klar am Kampf. Hier lag auch klar seine Anfälligkeit für totalitäre Ideologien wie Nationalsozialismus oder Faschismus. Ein Verständnis des Politischen, in dem es nur den Kampf als Ursprung der Entwicklung gibt, ist klar antidemokratisch.
Auch den Vorwurf, dass sein Fokussieren auf die Geschichtlichkeit ihn blind für die Geschichte machte, unterschreibe ich voll. Damit will ich nicht sagen, dass er den Nationalsozialismus verkannte oder nicht als das erkannte, was er war. Die „negativen Seiten“ des Nationalsozialismus wie der Terror waren ihm ’33 voll bewusst, aber er sah sie als „unangenehme, negative Seiten“ einer Erneuerungsbewegung. Das ist einer meiner größten Vorwürfe an Heidegger: Dass er zu sehr darauf bedacht war, den Nationalsozialismus als Erneuerungsbewegung zu sehen, dass er verdrängte, wie diese „Erneuerung“ für die Nationalsozialisten aussehen sollte.
Ironischerweise wurde ihm das schon bei seiner Rektoratsrede aus nationalsozialistischen Kreisen zum Vorwurf gemacht: Dass er einen „Privatnationalsozialismus“ betreibe, der nicht mit dem der Partei übereinstimme.
Tatsächlich lehnte Heidegger einen der zentralen Glaubenssätze der NS-Ideologie, die Bestimmung des Volkes auf biologischer d.h. rassistischer Grundlage, schon am Anfang seines Engagements vehement ab. Man kann Heidegger allerdings einen gewissen Kultur-Chauvinismus nicht absprechen. Zudem finden sich in einem Brief an seine Frau aus den frühen 20ern antisemitische Äußerungen. Diesen Antisemitismus scheint er allerdings Mitte der 20er abgelegt zu haben, keine weiteren derartigen Äußerungen sind dokumentiert.
Trotz alledem: Fakt ist inzwischen auch, dass es bei Heidegger in der 2. Hälfte der 30er Jahre ein starkes Umdenken gab und er immer mehr auf Distanz zum Nationalsozialismus ging. Gegenüber Marcuse hat er in einem Brief von ’48 gesagt, seine Nietzsche-Vorlesungen seien sein „geistiger Widerstand“ gewesen. Dies stimmt durchaus. Dort spricht er dem Nationalsozialismus jeden Erneuerungswillen ab und reiht ihn ein in die Metaphysik. D.h., auch der Nationalsozialismus präsentiert lediglich abgeschlossene Auslegungen von Dasein und Welt und hinterfragt weder sich selbst noch die vorgebrachten Auslegungen, kurz: Der Nationalsozialismus ist nicht revolutionäres Hinterfragen, sondern rückschrittliche Weltanschauung; nicht (Da)Sein, sondern Seinsvergessenheit.
Tatsächlich zeigt sich in seinen Vorlesungen und vor allem seinen privaten Schriften wie etwa den „Beiträgen zur Philosopie“ oder den „Überlegungen“ ein klares Umdenken. Dieses Umdenken zeichnet etwa Richard Polt in seinem Text „Jenseits von Kampf und Macht“ im 5. Heidegger-Jahrbuch anschaulich nach. In seinen erst posthum veröffentlichten privaten „Beiträgen zur Philosphie“ (1936-38) verurteilt er den Nationalsozialismus und dessen Auslegung des Volkes. Polt gibt es folgendermaßen wider:
Selbstsein bedeutet weder für ein Volk noch für ein Individuum, eben dasselbe zu bleiben, sondern das eigene Sein – und so das Sein überhaupt – als Frage zu erfahren. Wir müssen uns, so Heidegger, fragen, wer wir sind, um die zu sein, die wir sind.
[…]
Das Leitmotiv von Heideggers Kritik am Nationalsozialismus besteht deshalb in dem Vorwurf, dass der Nazismus das Volk in ein unveränderliches, selbstzentriertes Subjekt verwandle, statt sein Potential als Dasein [d.h. Selbstverständnis aus Selbstreflexion – Anm. S.H.] zu erkennen. Eine „totale“ Weltanschauung übersehe bezeichnenderweise seinen eigenen verborgenen Grund, „z.B. [das] Wesen des Volkes“. Die Nazis reduzierten das Volk auf „das Gemeinschaftliche, das Rassistische, das Niedere und Untere, das Nationale, das Bleibende“. („Jenseits von Kampf und Macht“, S. 170-171; direkte Heidegger-Zitate aus „Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis)“, S. 40 u. 117)
Die positive politische Dimension von Heideggers Denken sollte hier klar werden und zwar nicht nur in der direkten Auseinandersetzung mit dem Nazismus, sondern auch insofern als sie tatsächlich als phänomenologisches Moment des Hinterfragens und der kritischen Auseinandersetzung seit je her den Kern seiner Philosophie gebildet hat.
In den „Überlegungen“, die er Anfang der 40er schreibt, findet er noch deutlichere Worte:
[Viele] brauchen die Romantik vom „Reich“, von Volkstum, vom „Boden“ und von der „Kameradschaft“[…] Die brutalitas hat zur Folge, nicht zum Grund, daß der Mensch selbst sich […] zum factum brutum macht und seine Tierheit durch die Lehre von der Rasse begründet […] [eine Lehre, die] alles „Geistige“ scheinbar bejaht, ja erst zur „Wirkung“ bringt und doch zugleich und im Tiefsten verneint in einer Verneinung, die dem radikalsten Nihilismus zutreibt; denn alles ist „letzten Endes“, d.h. schon an seinem Beginn „Ausdruck“ der Rasse. […] Das Raubtier ist die Urform des „Helden“ […] Das Raubtier aber mit den Mitteln der höchsten Technik ausgestattet, vollendet die Verwirklichung der brutalitas des Seins […]. („Jenseits von Kampf und Macht“, S. 164; Heideggers „Überlegungen“ sind noch nicht in der Gesamtausgabe erschienen)
Der erste Halbsatz ist hier, denke ich, durchaus auch als Selbstkritik zu lesen. Der Begriff “Reich” taucht bei Heidegger zwar nicht auf, “Volk”, “Boden” und “Kameradschaft” (letzterer vor allem in Briefen) allerdings schon. Obwohl Heidegger “Volk” nicht im nationalsozialistischen Sinne von “Volkstum” verwendet und “Boden” nicht direkt im “Blut und Boden”-Kontext der Nazis. Trotzdem verfiel Heidegger selbst gerade Anfang der 30er durchaus auch zum Teil dieser Romantik, denke ich.
Dass er letztlich die Geschichte auf die Tradition der Subjektmetaphysik zurückführt und darin alle bestehenden politischen Systeme mehr oder weniger als „metaphysisch gesehen dasselbe“ bezeichnet, ist dabei natürlich reichlich plump. Allerdings glaube ich schon, dass er da zum Teil auch einen guten Punkt hat, mit seiner Analyse des Machtverständnisses der Moderne, das dazu tendiert, Welt zu objektivieren und der eigenen Auslegung der Welt anzugleichen. Die Prägung der Moderne durch Verfügbarkeit und Machbarkeit als Zweck und Selbstzweck stellt ja nicht nur Heidegger fest. José Ortega y Gasset und Zygmunt Bauman gehen mit ihren Analysen zum Teil in ähnlichen Stoßrichtungen.
Das Seinsvergessen
Was ist nun aber mit Heideggers Verhalten nach ’45?
Nach dem Krieg war Heidegger vermehrt darauf bedacht, sich nicht zu stark und vor allem nicht zu konkret ins Politische zu involvieren. Man mag sagen, dass er in dieser Hinsicht wohl eine Lehre aus seinem Engagement von ’33 bis ’36 gezogen hat.
Dass die fehlende Stellungsnahme zu seiner eigenen Verstrickung als ungebrochenes Bekenntnis auch nach ’45 angesehen werden kann, glaube ich nicht. Vielmehr würde ich sagen, dass er davon überzeugt war, dass seine nachgelassenen Schriften letztlich die „richtige“ Beurteilung des Wandels seines Denkens gewährleisten würden. Was ja durchaus auch stimmt. Andererseits hat er sich, was seine Verstrickung in den Nationalsozialismus betrifft, nach ’45 auch das ein oder andere Mal in Unaufrichtigkeiten geflüchtet. Im oben bereits erwähnten Brief an Marcuse verglich Heidegger die Deportation der Juden mit der Vertreibung der Ostdeutschen durch die Sowjets, mit dem Unterschied, dass „der blutige Terror der Nazis vor dem deutschen Volk tatsächlich geheimgehalten worden ist“; eine Äußerung, die Polt als „Unaufrichtigkeit oder Selbstbetrug“ sieht. Und tatsächlich war ihm bereits ’33 bewusst, dass Terror ein Teil des Nazi-Regimes ist. Auch berichtet Paul Jurevics, der ’44 vor der Roten Armee aus Lettland ins deutsche Exil flüchtete von einem Zusammentreffen mit Heidegger im Herbst des selben Jahres: „Er fragte, was mit den in unsere Länder gebrachten Juden passiert sei. Als ich das erzählte, wurde er noch dunkler und äußerte sich immer schärfer über das jetzige Unwesen […]“ („Heidegger Jahrbuch 4. Heidegger und der Nationalsozialismus I: Dokumente“, S. 265).
Wenn Habermas schreibt, dass Heidegger die „Unwahrheit der Bewegung, von der er sich hatte mitreißen lassen, nicht in den Begriffen einer subjektiv zu verantwortenden existentiellen Verfallenheit an das Man, sondern als ein objektives Ausbleiben der Wahrheit“ interpretiert, dann kann ich dem in Bezug auf den ersten Teil zustimmen.
Ich hoffe, es ist aus diesem Artikel klar geworden, wieso ich glaube, man kann Heideggers Philosophie nicht so ohne weiteres für die Verfehlungen der Person Heidegger verantwortlich machen. Sicher, Heidegger hat auch in Teilen seiner Philosophie einige Anknüpfungspunkte für totalitäres Denken; ich denke da gerade an die Dominanz des Kampfes im Politischen des frühen Heidegger sowie diverse Schriften und Vorträge aus der Zeit seines Engagements, in denen er bewusst versuchte, seine Philosophie der Naiz-Ideologie anzunähern. Allerdings muss man auch sagen, dass die Philosophie Heideggers klar eine Entwicklung vollzog und letztlich die Annäherung an die Nazi-Ideologie scheiterte, weil die Kernansichten Heideggers darüber, was Dasein ist, nicht mit einer totalitären Ideologie vereinen lassen. Dazu ist die Betonung der kritischen Selbstreflexion zu stark.
Ebenfalls zurückweisen würde ich den Vorwurf, dass Heidegger ein Kollektivsubjekt Volk in seinem Denken etabliert, in dem der Einzelne aufgeht. Ich glaube, aufgezeigt zu haben, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Auf diesselbe Weise muss ich klar den Vorwurf des Jargons zurückweisen, auch hier verhält es sich meiner Meinung nach genau umgekehrt.
Was man Heidegger vorwerfen muss, ist neben seinem anfänglichen Engagement für den Nationalsozialismus, vor allem seine mangelnde Selbstreflexion in den ersten Jahren nach ’45. Wie viele andere versuchte er zum Teil, sich von seiner Verantwortung zurückzuziehen (in den 50ern fand er zum Teil deutliche bekennende Worte). Hier wurde er dem Anspruch, den er selbst in seiner Philosophie an das Dasein stellte, nicht gerecht. Letztlich war auch er nicht gefeit gegen die Diktatur des Man, wie sie im Nachkriegsdeutschland damals noch herrschte. So hatte Heidegger auch seine dunkle Periode der Seinsvergessenheit.
Literatur:
Heidegger, Martin, Sein und Zeit, 19. Auflage, Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006
Div., Heidegger-Jahrbuch 4. Heidegger und der Nationalsozialismus I: Dokumente, Hrsg. v. Alfred Denker u. Holger Zaborowski, Karl Alber Verlag, Freiburg/München 2009
Div., Heidegger-Jahrbuch 5. Heidegger und der Nationalsozialismus II: Interpretationen, Hrsg. v. Alfred Denker u. Holger Zaborowski, Karl Alber Verlag, Freiburg/München 2009